Eine Attraktion für die Fachwelt

Erstmals wird die documenta durch eine wissenschaftliche Besucherstrukturanalyse begleitet. Erste Ergebnisse bestätigen: Die Kasseler Kunstschau ist eine Attraktion für die Fachwelt.

Arnold Bode und seine Mitstreiter hatten die erste documenta (1955) ausdrücklich nicht für die Fachwelt geplant, sondern für die Jugend, die damals kaum die Kunst der Moderne kennen konnte. Die Jugend kam, die Fachwelt aber auch. Das galt auch für die Folgeausstellungen. Einerseits wurde die documenta für viele Menschen der Ort, an dem sie erstmals mit der Kunst der Gegenwart in Berührung kamen, andererseits setzte sich diese im Vier- bzw. Fünf-Jahres-Rhythmus veranstaltete Ausstellung national und international als Orientierungspunkt im zeitgenössischen Kunstbetrieb durch.

Das heißt: Diese Wirkungsweise der documenta wurde bislang weitgehend vermutet. Genaueres wußte man nicht. Jetzt aber belegen erste Ergebnisse einer Stichprobenuntersuchungen die Richtigkeit der Annahmen: Einerseits sind rund 40 Prozent der Besucher unter 30 Jahre alt, andererseits kommt jeder fünfte aus beruflichem Interesse zur documenta. Wie sehr die Kasseler Kunstschau das Fachpublikum anzieht, wird daran ersichtlich, daß 44,2 Prozent aller bisher befragten 1817 Besucher angaben, beruflich mit Kunst zu tun zu haben; bei den ausländischen Besuchern (ein Fünftel des Gesamtpublikums) gilt dies sogar für fast 70 Prozent. So wenig überraschend diese Ergebnisse sind, so bestätigen sie doch die Einschätzung, daß die documenta weltweit zu einer Leitausstellung für aktuelle Kunst geworden ist. Erhärtet wird dies noch durch die Feststellung, daß 51 Prozent „Stammbesucher“ der documenta sind, zuvor also schon eine oder mehrere Ausstellungen in Kassel gesehen haben; 3,3 Prozent sind der documenta sogar seit ihrer Premiere im Jahre 1955 treu.
Die Besucherbefragung ist Teil einer umfangreichen Wirkungsanalyse, die Gerd Michael Hellstem und Horst Hoffrichter von der Gesamthochschule Kassel in Zusammenarbeit mit der documenta vornehmen. In dem längerfristig angelegten Projekt soll auch danach gefragt werden, welche Wirkungen die documenta auf das Stadtimage, die Medien und die Wirtschaft hat.

Wahrscheinlich hatten sich viele einen größeren Besucherstrom aus den neuen Bundesländern erhofft. Immerhin ist dies für die dort lebenden Kunstinteressierten die erste frei zugängliche documenta. Aber wie dort insgesamt die Teilnahme an Kulturveranstaltungen derzeit gering ist, so blieb auch der Ansturm auf die documenta aus: Nur 7,4 Prozent aller deutschen Besucher kamen bisher aus den neuen Bundesländern.

Aus dem Land Hessen, in dem die documenta stattfindet, kommt auch das größte Kontingent
des deutschen Publikums – 31,1 Prozent; es folgen die Nachbarländer Nordrhein-Westfalen (17,2 Prozent), Nicdersachsen (14 Prozent) und Bayern (8,9 Prozent). Die Stadt Kassel stellt immerhin 11 Prozent des deutschen documenta-Publikums.

Aufschlußreich ist die Beobachtung, daß die westdeutschen Besucher vornehmlich aus den Kunstzentren und Großstädten kommen; hingegen scheint die documenta in den neuen Bundesländern eher die Menschen in den mittelgroßen Städten anzusprechen.

Wer glaubte, der belgische documenta-Leiter Jan Hoet würde nun eine Invasion seiner Landsleute heraufbeschwören, sieht sich getäuscht. Die Belgier stellen zwar 17,2 Prozent der ausländischen Besucher. Die Spitzenposition halten aber die Niederländer mit 27,6 Prozent. Die documenta-Macher können zufrieden sein: Die internationale Strahlkraft der Kasseler Ausstellung für den Kunstbetrieb wird bestätigt. Allerdings gilt die Faszination nur in den westlichen, industrialisierten Ländern.
Die documenta als Institution stellt niemand mehr in Frage auch keiner der Prominenten die – völlig unrepräsentativ einen (anderen) persönlichen Fragebogen der documenta erhielten und ausfüllten: Von Heiner Müller bis Klaus von Dohnanyi und von Otto Sander bis Ulrich Wickert antworteten alle auf die Frage, ob es wieder eine documenta geben solle, mit einem unbedingten Ja. Wulf Herzogenrath (Nationalgalerie Berlin) nennt auch den Grund: „Weil wir alle, Publikum und Medien, uns dann immer – endlich wieder – mit der aktuellen Kunst und deren Präsentation auseinandersetzen“.

HNA 31. 7. 1992

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