Bilder aus dem blauen Raum

Mit der Uraufführung von Jan Fabres Oper bescherte die documenta 9 einen theatralischen Höhepunkt. Wir wollen das Ereignis in zwei Artikeln – aus der bildnerischen und musikalischen Sicht
– würdigen.

Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf einen schwarzen halbdunklen Bühnenraum. Über die Zuschauer hinweg fliegt quer durch das Kasseler Opernhaus ein Adler; er läßt sich auf dem Rücken eines auf dem Boden liegenden Mannes nieder und beginnt, dessen Kleidung zu zerrupfen. Da tritt eine blonde Frau im blauen Abendkleid auf, streckt den ledergeschützten Arm aus, lockt den Adler von seinem Opfer weg und läßt ihn hinter die Bühne fliegen.

So stark und eindrucksvoll wie dieses Eingangsbild, das noch dem Beginn der Musik vorausgeht, ist jedes der folgenden bis hin zum Schluß: Wenn Helena Troubleyn (Torgun Birkeland), die Zentralfigur der Oper, das Scheitern ihrer Wünsche und Träume spürt, verzweifelt gegen das sich steigernde Lachen des Chores ansingt und Gesang und Lachen sich bis zu dem Moment dramatisch steigern, in dem die Chorsänger weiße Teller in Scherben zerschlagen. Aus dem tiefblauen Raum leuchten nun strahlend die Scherben, und wieder betritt der rotbehoste Mann mit einer Eule auf der Schulter (Mark Oldfield als Il Ragazzo) die Bühne, der immer wieder mahnend Helenas Gedanken und Handlungen kommentierte.

Jan Fabres Oper „Silent Screams, Difficult Dreams” (Lautlose Schreie, schwierige Träume), die jetzt zum Abschluß der documenta 9 in Kassel ihre Uraufführung erlebte, ist der zweite Teil einer Trilogie, die die Gedanken von Helena Troubleyn erzählt. Fabre (Konzept, Libretto, Regie, Choreographie und Ausstattung) entführt sein Publikum in eine innere Welt, in der Helena mit Hilfe ihrer Träume Gegenwart und Geschichte aufheben will, um die Wirklichkeit zu überwinden. So entfaltet sich keine Handlung, sondern ein Panaroma unendlich vieler Bilder zwischen Schönheit und Schrecken. Helena und ihr zweites Ich, das sie sich geschaffen hat und das sprachlos bleibt (Els Deceukelier als Fressia), wandeln zwischen Herrschaft, Ruhm und Tod. Es sind metaphorisch aufgeladene Bilder, die wie im Zeitlupentempo abrollen.

Der belgische Künstler Jan Fabre hat mit seinen blauen Bildern (aus Kugelschreibermalerei) die Museen erobert. Während vieler seiner Bilder reine Farbe bleiben, läßt er hier aus der Tiefe des Blaus Visionen entstehen, die jede für sich bis ins kleinste Detail präzise gestaltet sind. Der Maler beherrscht meisterhaft den Bühnenraum und fasziniert vor allem mit seiner perfekten Choreographie. Wenn etwa das Ballett zum ersten Mal im immer wieder unterbrochenen Gang über die Bühne zieht, wenn Kobolde aus der Tiefe des Raume auftauchen und sich als Soldaten entpuppen oder wenn die drei Sängerinnen im priesterlichen Gang Kerzenkreise anzünden, um sich schließlich in diesen wie Tote zur letzter Ruhe hinzulegen, dann gewinnt das Bühnengeschehen eine ungeheure Kraft. Die Bilder geben dem Schweigen die Sprache zurück.

HNA 21. 9. 1992

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