Die Malerei tritt auf der documenta 9, der Kasseer Weltausstellung der Kunst, nur scheinbar in den Hintergrund. Sie ist mit Werken von rund fünfzig Künstlern reich vertreten.
In den Aue-Pavillons hat Adrian Schiess vor eine Fensterfront vier farbige Platten auf den Boden legen lassen. Die Platten (Verbundglas) sind mit glänzendem Autolack derart vollendet überzogen, daß sich die ganze Umgebung in ihnen spiegelt. Kommt die Malerei hier an ihr Ende – wenn der Farbauftrag nur noch dazu dient, die Wirklichkeit sich selbst abbilden zu lassen?
Ein paar Räume weiter erneut die Spiegelwand eines Malers: Gerhard Richter hat zwei graublaue Glasflächen so anbringen lassen, daß sie sich wie Altarflügel zu öffnen scheinen. Während rundum Richters recht abstrakte Streifenbilder nur Farbe und Maispuren vorführen, reflektieren die Glasflächen die Abläufe im Raum.
Hat sich die Malerei erschöpft? Viele Besucher der documenta meinten dies nach einem ersten Rundgang, denn sie kehrten mit dem Eindruck zurück, die Malerei sei nur schwach vertreten. Diese Einschätzung ist falsch. Wie ein roter Faden ziehen sich die malerischen Beiträge durch alle Häuser der documenta 9. Da die expressiven und lautstark erzählenden Bilder aber die Ausnahme sind und da im Gegensatz zu vielen Skulpturen und Installationen sich die gezeigten Gemälde eher mit den Fragen der Malerei, also mit sich selbst, als mit der Welt beschäftigen, tritt die Malerei anscheinend in den Hintergrund.
Gerhard Richter, seit der documenta 5 unter den deutschen Malern immer wieder derjenige mit den stärksten Impulsen, spitzt die Frage nach dem Wesen und der Funktion der Malerei in seinem Beitrag zu. Dabei sind es weniger die neuen abstrakten, überraschend dunklen und etwas zur Ruhe gekommenen Bilder, die diese Antwort geben, sondern es ist die Konstellation, die Richter in seinem Raum geschaffen hat: Er hat die Wände mit braunem Holzfurnier überziehen lassen.
In dieser Direktoren-Zimmer-Atmosphäre werden die Bilder zur Dekoration, wobei die Längsstreifen der abstrakten Bildergegen die quer verlaufende Maserung anzukämpfen haben.
Oben in einer Ecke hängt ein kleines ausschnitthaftes Blumenstilleben, das wie die Erinnerung an die Zeit der erzählenden Malerei wirkt. Richter arbeitet gern mit solchen Kontrasten, um das Spielerische der Maltechniken vorzuführen. Er bezieht Position, in dem er sich jeder eingrenzenden Einordnung entzieht. Also gewinnen die gläsernen Bildflügel, die den Betrachter auf sich und die Welt zurückverweisen, eine zentrale Rolle: Die gesuchten Bilder sind nicht da zu finden, wo sie erwartet werden.
Den Schwerpunkt der malerischen Beiträge zur documenta 9 bilden die reinen, mit sich selbst beschäftigten Farbkompositionen; darunter sind es wiederum die monochromen (in nur einer Farbe gemalten) Bilder, die ein Übergewicht haben.
Den Grundton schlägt hier der amerikanische Altmeister Ellsworth Kelly an, der bereits 1964 in der documenta vertreten war. Seine drei Gemälde in Grün, Rot und Blau beweisen, wie durch einen kurvigen oder spitzwinkligen Zuschnitt der Leinwand eine in sich ruhende Bildfläche Kraft und Bewegung gewinnen kann.
Kellys Bilder überstrahlen viel, doch die ebenfalls monochromen Gemälde von Frederic Matys Thursz, der vor wenigen Tagen gestorben ist, Jürgen Meyer oder auch Adrian Schiess zeigen, dass das Thema der Einfarbenmalerei längst nicht erledigt ist. Mal wird der Blick zurückgeworfen
(Schiess), mal in die Farbe hineingezogen (Meyer), oder dann rundet sich das Bild zum Farbkörper (Thursz).
Die Malerei hat nicht ausgespielt. Die documenta 9 zeigt, daß es zwischen der monochromen und der dynamisch-erzählenden Malerei ein breites Spektrum gibt – etwa Eugène Léroys aufgewühlte Farbgebirge, Helmut Dorners Variationen in Grau und Braun, Per Kirkebys Großformat mit den vielen Übermalungen, die in ein Landschaftsbild drängen, oder die dichten Kompositionen von Herbert Brandl und Christa Näher.
Manche Namen sind austauschbar, nicht alles sind Meisterwerke, doch die Ausstellung dokumentiert umfassend den aktuellen Stand der Malerei: Die Künstler gehen eher fragend an Leinwand und Farben heran, als daß sie munter drauflos malen würden.
Nicht umsonst thronen wie Götterboten die Bilder von David, Gauguin und Ensor im Zwehrenturm: Die Malerei hat etwas über unsere Welt auszusagen – auch dann, wenn sie sich wie bei der faszinierenden Wandmalerei von Ernst Caramelle im hohen Saal des Museums Fridericianum darauf konzentriert, den Raum neu zu bestimmen.
Da, wo ein europäischer Meister wie Francis Bacon seine Passionsgeschichten vorträgt, ist die Malerei in sich gebrochen. Zuversicht und Fortschrittsglaube sind am Ende. Es ist sich kein Zufall, daß Richters Plan, ein Riesenformat nach Kassel zu bringen, scheiterte. Die Zeit der großen (und einfachen) Lösungen ist vielleicht erst einmal vorbei.
Bei Mario Merz explodiert das Konzentrat und projiziert eine Vielzahl fliegender Bilder an die weite Wand der documenta-Halle. A.R. Penck hat sich auf ganz kleine, intime Formate zurückgezogen, und gleich zwei Künstler – Tomasz Ciecierski und Marcel Maeyer – treten mit witzig-sympathischen Bildtableaus auf, die aus zahllosen Variationen eines Themas bestehen. Diese Arbeiten wirken wie Vorschläge, die Diskussion über die Malerei neu zu eröffnen.
Traditionelles Positionen werden am konsequentesten von Außenseitern vertreten: Manuel Ocampo, Tim Johnson und Bhupen Khakhar erzählen mit Hilfe der Malerei auf eine liebenswürdige Weise – wobei der Einbruch der westlichen Zweifel schon spürbar ist. Allerdings passierte gerade bei Khakhars Beitrag auch der einzige kommerzielle Ausrutscher der documenta: Der kleine bemalte Kiosk ist zu einem reinen Werbestand für eine Zigarettenmarke verkommen.
HNA 14. 7. 1992