Und was bleibt?

Nein, vom „Himmeisstürmer“ und seinem hoffentlichen Verbleib in Kassel soll hier nicht die Rede sein. Der forsche Mann auf dem Silberrohr ist ein Selbstläufer. Er entfaltet so viel Charme, daß er schon wie Mona Lisa zum Abziehbild geworden ist und daß man fürchten muß, daß der Balanceakt zwischen Aufstieg und Absturz, den Borofsky bei seiner Skulptur im Sinn hatte, gar nicht wahrgenommen wird.

Nein, es geht eher um die Frage, was denn aus diesem pulsierenden documenta-Sommer in die nächsten Jahre hinübergerettet werden kann. Beispielsweise: Wenn man mit Blick auf das Fridericianum unter den Bäumen mitten im Sprachgewirr der Menschen sitzt, dann möchte man das Bild vom frisch begrünten, aber sonst ausgestorbenen Friedrichsplatz wie eine Alptraumvision von sich weisen.

Es ist völlig klar, daß diese Atmosphäre zwischen Kunstfest und Zirkus, in die das Stadtzentrum getaucht ist, sich nicht beliebig konservieren läßt. Das Ereignis documenta bezieht ja gerade seine ungeheure Kraft daraus, daß es nicht alltäglich ist, sondern nur alle fünf Jahre die Stadt zur bunten Arena macht. Gleichwohl keimen Hoffnungen wider die Vergänglichkeit auf. Warum, so fragt man sich, kann denn nicht auch sonst der Friedrichsplatz als Lebens- und Erlebnisraum für die Stadt zurückgewonnen werden?

Aber es geht nicht bloß um die Gastronomie und den Budenzauber (mit seinen auch weniger schönen Rückseiten). Gedacht ist vielmehr an jene heitere Eleganz, wie sie der Holzbrücke anhaftet, die über die Mauer am Rande des Friedrichsplatzes geschlagen worden ist. Auf einmal fühlt man sich in eine venezianische Stimmung versetzt. Was beweist, daß bisweilen kleine Kunstgriffe genügen, um Leere in Liebenswürdigkeit zu verwandeln.

Es ist an ganz anderes zu denken: Nach einer Analyse der GhK sind bisher 80 Prozent der documenta-Besucher Deutsche und kommen von diesen 11 Prozent aus Kassel. Wenn das Zahlenverhältnis so bleiben und die documenta tatsächlich mehr als 500 000 Besucher anlocken sollte, dann wären am Ende 40 000 bis 50 000 Menschen aus dem Kasseler Raum zu documenta-Besuchern geworden. Eine fast unglaubliche Vorstellung.

Selbst wenn es weniger werden – kann und muß man da nicht hoffen, daß etwas von diesem breiten Interesse am Kunstbetrieb zu erhalten ist für den Alltag der nächsten Jahre, für die Ausstellungen im Fridericianum, in den Museen und im Kunstverein? Zu wünschen wär‘s.

Doch darf man eben nicht von der Ausnahme auf die Regel schließen. Es wäre fatal, würden aus einer Euphorie heraus beispielsweise für die Nutzung der documenta-Halle (als zweiter Kunsthalle) falsche Schlüsse gezogen.

HNA 1. 8. 1992

Schreibe einen Kommentar