Boetti, Torres, Alys und das One Hotel

Boettis One Hotel Boettis Teppich - von Alys eingetausch Fiktive Faxe von Torres an Boetti

Carolyn Christov-Bakargiev ist – wie ihre Vorgänger – bestrebt, sich bei der Ausarbeitung des Konzepts für die dOCUMENTA (13) und bei der Aufstellung der Künstlerliste nicht in die Karten schauen zu lassen. Trotzdem liebt sie es, mit Hilfe von kleinen Blitzlichtern und verschlüsselten Nachrichten die Öffentlichkeit in ihre Vorbereitungen einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund ist die Präsentation von Penones Bronzebaum in genau einer Woche in der Kasseler Karlsaue zu sehen. So ist aber auch der knappe Hinweis auf der documenta-Homepage auf den Vortrag zu verstehen, den die documenta-Leiterin am 2. Juni in Kabul gehalten hat.

Der Hinweis ist nicht besonders ausführlich. Da heißt es nur: “Notes on dOCUMENTA (13), 2012“ – ein Vortrag von Carolyn Christov-Bakargiev, Künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), mit Beiträgen des Anthropologen Michael Taussig und den Künstlern Francis Alÿs und Mario Garcia Torres. Im Rahmen der wöchentlichen Timur-Shah-Vortragsreihe, organisiert vom Aga Khan Trust for Culture, AKTC, Kabul.

Dass in dieser knappen Nachricht mehr steckt als die bloße Information über einen Vortrag verdeutlicht das beigefügte (und oben abgebildete) Foto mit dem Bildtext: Alighiero Boettis One Hotel, Kabul, ca. 1973. Auf den ersten Blick scheint der Vortrag der documenta-Leiterin nur am Rande mit Boetti zu tun zu haben. Sie, die Kuratorin, hielt einen Vortrag über die dOCUMENTA (13) in der afghanischen Hauptstadt, aus der das Boetti-Foto stammt. Doch das ist nur der Anfang. Forscht man nach, offenbart sich sehr schnell, dass Boettis Biographie und sein Werk sehr viel mit Kabul zu tun haben und dass Francis Alys und Mario Garcia Torres ihrerseits direkt und indirekt auf Boettis Biographie und auf sein Werk Bezug genommen haben. Das, was die drei verbindet, gewinnt schon fast die Qualität eines gemeinschaftlichen Kunstprojektes.

Alighiero Boetti (1940-1994), der sich auch Alighiero e Boetti nannte (weil er sich gern als Doppelfigur, als Zwillinge sah), ist durch seine gestickten Wandteppiche berühmt geworden, in denen er die politischen Landkarten neu ordnete oder umdeutete. Er war 1972 in der documenta 5 vertreten. Während im Katalog einer seiner in Afghanistan gefertigten Wandteppiche abgebildet ist, verzeichnet die Auflistung der ausgestellten Werke als seinen Beitrag 720 frankierte und gerahmte Briefe in sechs Rahmen. Als Boetti zehn Jahre später an der documenta 7 teilnahm, schuf er stark aquarellhaft wirkende Bilder, in die quadratische Symbole gedruckt waren.

Boetti, der sein Kunststudium abbrach, für eine Weile den Ideen der Arte povera folgte, in seinem Herzen aber Konzept-Künstler war, kam 1971 das erste Mal nach Kabul. Er, der damals, wie Tom Francis berichtet, seiner italienischen Heimat den Rücken gekehrt hatte, weil Italien von Attentaten, Entführungen und neofaschistische Bewegungen geprägt wurde, suchte eine andere, damals eher friedlich scheinende Welt. Bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen im Jahre 1979 kehrte er regelmäßig (zweimal pro Jahr) nach Afghanistan zurück. Dort fand er nämlich die Stickerinen, die seine Teppichentwürfe umsetzten. Dort faszinerte ihn jedoch auch das widersprüchliche Leben, das damals die westlichen Staaten und Kulturen (USA, Westdeutschland) zu beeinflussen versuchten, dem sich die Afghanen aber elegant-sture Weise widersetzten, indem sie, wie Boetti bewundernd feststellte, an ihrer Wohnkultur (ohne Möbel) und ihrer Tradition, Tag und Nacht die gleichen Kleider zu tragen, festhielten.

Zu den frühen Projekten gehörten zahlreiche Brief-Aktionen: Boetti verschickte Briefe mit kurzen Botschaften oder ohne Inhalt – an fiktive Adressen, um sie als falsch adressierte Sendungen zurückzuerhalten und dann neu zu versenden beziehungsweise an sich selbt. Von Kabul aus versandte er seine „720 Lettere d’all Afghanistan“. Dazu heißt es in einem Text des Museums Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien:

„Ordnende und klassifizierende Systeme waren wesentliche Arbeitsgrundlagen
für Alighiero Boetti. Die Gruppe der Lavori Postali, in
der Afghanistan (1974) ein Hauptwerk ist, geht von einer Brieffolge
aus: 720 Briefe wurden an denselben Adressaten geschickt.
Ihre Zahl ergibt sich aus den variablen Anordnungsmöglichkeiten
der sechs Briefmarken. Die Briefe sind aus Kabul an eine Adresse
in Turin gerichtet und entsprechen 720 Blättern, die als das “Buch
Dastaghirs” gebunden sind. Von 1971 bis 1979 hielt sich Boetti
zweimal jährlich in Afghanistan auf, gründete in Kabul das legendäre
One Hotel, dessen Geschäftsführer Dastaghir seine dortigen
Aktivitäten koordinierte. Von ihm stammt der in Arabisch geschriebene
Textteil der Blätter. Boetti ergänzte diesen mit Zeichnungen
auf einer Vorlage mit Karomuster. Das Werk vereint ein
kompliziertes zeitliches Geschehen zu einem Bild von harmonischer
Ordnung und wird damit zu einem Dokument für allgemeine
kulturelle und gesellschaftliche Prozesse. Denn Boetti sah in
der Gesellschaft grundsätzlich eine Dialektik von Ordnung und
Unordnung; er war überzeugt, dass “in jeder Sache eine Ordnung
angelegt ist, auch wenn sie sich in ungeordneter Weise
umschreibt”.

Im selben Jahr, in dem Boetti seine „720 Lettere d’all Afghanistan“ verschickt hatte, versandte er auch von Turin aus 720 Briefe – ebenfalls mit wechselnden Briefmarken-Zusammenstellungen. Diese Turiner Serie ist offenbar 1972 in der documenta präsentiert worden. Die Briefe sowie das Kombinationsspiel mit den Briefmarken spiegelten Boettis Vorliebe für Ordnungen, sie symbolisierten aber auch den Leerlauf der Kommunikation – wenn die Briefe an den Absender zurückkomen oder wenn die Briefe ohne Inhalt sind.

Auf die Idee mit dem One Hotel hatte ihn Gholam Dastaghir gebracht, weil der davon träumte, ein eigenes Hotel zu eröffnen. Auf einer seiner nächsten Kabul-Reisen setzte Boetti den Traum zusammen mit Dastaghir in die Wirklichkeit um: Über dem einzigen Supermarkt in Afghanistan, wie es in einem Bericht heißt, eröffnete er in Kabul das One Hotel, das ihm bei seinen Aufenthalten als Wohnung und Atelier diente. Es war Teil seines Werkes, eine Plattform für Performances. Darüber hinaus funktionierte das One Hotel auch als eine Bleibe für „local tourists“. Er selbst wollte in Afghanistan nicht wie ein Tourist erscheinen. Von vielen wurde er dort nun Alighiero angeredet, wobei einige Leute in Afghanistan meinten, er hieße Ali Ghiero.

Diese Geschichte, noch dazu vor dem Hintergrund von Boettis Brief-Aktionen, faszinierte den Konzept-Künstler Mario Garcia Torres. Er liebt es, Künstlerbiographien zu umkreisen, in denen Geheimnisse und Legenden verborgen sind. In Analogie zu den Briefen, die Boetti rausgeschickt hatte, versandte Torres an Boetti (der seit 1994 nicht mehr lebt) Faxe mit kurzen Nachrichten, forschte Ende 2001 (nach den US-Militärangriffen auf Afghanistan) nach dem zertörten One Hotel von Boetti und trug Requisiten zusammen, die sich für einen Film über diese Geschichte geeignet hätten. Ja, Torres schuf sogar in Anlehnung an Boettis Schaffen eine Wandarbeit, in die an Stelle des Entstehungsdatums die neuesten (Kriegs-)Nachrichten aus Afghanistan eingetragen wurden.

So entwickelt sich Boettis Werk auf einer anderen Ebene und aus einer anderen Sicht weiter. Und mit jedem Standort, an dem diese Arbeit von Torres gezeigt wird, kommen neue aktuelle Kommentare hinzu.

Ein spannendes und vielschichtiges Projekt, in dem es um Kunst und ihre Ausdrucksmöglichkeiten ebenso geht wie um den mittlerweile Jahrzehnte langen Kampf um die Einflussmöglichkeiten in Afghanistan.

Die Beziehung des belgischen Künstler Francis Alys (Jahrgang 1959) zu Boetti ist nicht so intensiv wie die von Torres, doch beider Werke verknüpfen sich gut, weil die Denkweise und Haltung des Konzeptkünstlers Alys das weiterentwickelt, was Boetti vor 40 Jahren in Gang gesetzt hatte. Alys war als Architekt und Ingenieur tätig, bevor er sich der Kunst zuwandte. Nach dem großen Erdbeben von 1987 ging Alys als Aufbauhelfer nach Mexiko, wo er heute lebt. Seine künstlerischen Anfänge mit Spaziergängen als Kunstaktionen erinnern ein wenig an den Soziologen und Landschaftsplaner Lucius Burckhardt, der zum besseren Verständnis der Umwelt die Spaziergangwissenschaften begründete. 2001 ließ Alys zur Biennale von Venedig an seiner Stelle einen dressierten Pfau durch die Ausstellung, durch die Stadt und zu Empfängen spazieren gehen. Die Abwesenheit des Künstlers kultivierte er in diesem Jahr weiter, indem er die Einladung des Amsterdamer Kunstzentrums De Appel zur einer Gruppenausstellung ohne ihn selbst nutzte: „I’m Not Here. An Exhibition Without Francis Alÿs“. Alys erprobt Grenzsituationen. So kaufte er in Anwesenheit eines filmenden Kameramannes einen Revolver, entsicherte ihn und ging mit der offen getragenen Waffe durch die Straßen, bis er von der Polizei festgenommen wurde. Zwei Videos fertigte er dazu an – ein dokumentarisches und eines, in dem die Szenen nachgespielt werden.

Vor vier Jahren nahm Alys an der Emergency Biennale Chechnya teil, die Tschetschenien ins Bewusstsein der Welt zurückholen sollte und die um die Welt reiste – an der Alighiero e Boetti dank Alys posthum beteiligt war. Statt eines eigenen Werkes präsentierte der belgische Konzeptkünstler einen kleinen Bildteppich, den Boetti in Afghanistan hatte anfertigen lassen und den Alys durch einen Tausch (gegen eine Zeichnung) mit einem mexikanischen Sammler erworben hatte.

Dem Teppich fügte Alys ein Zertikat bei, in dem die Tauschaktion dokumentiert wurde und in dem Alys außerdem berichtete, dass ein Vorfahre von Boetti, ein Giovanni Battista Boetti im 18. Jahrhundert die Widerstandskämpfer der Tschetschenen gegen Russland angeführt hatte. Annemarie Sauzeau Boetti schildert in ihrem Buch „Alighiero e Boetti – Shaman/Shoman“ (Verlag Buchhandlung Walter König) sehr ausführlich das Leben dieses Vorfahren, der Dominiker-Mönch gewesen war, in Kleinasien unter den Einfluss von esoterischen Strömungen geriet und sich schließlich dem Islam annäherte. Aus Boettis Sicht war es schicksalhaft, dass sein Vorfahre die Tschetschenen gegen russische Truppen anführte und er selbdt 200 Jahre später den russischen Invasoren aus Kabul weichen musste.

So schließt sich also der Kreis: Der in Afghanistan gefertigte Teppich gelangt mittels der Tauschaktion zumindest gedanklich wieder in die Region im Grenzgebiet von Asien und Europa, in dem seit Jahrhunderten fremde Mächte Einfluss zu nehmen versuchen. Da, wo Boettis Vorfahre gekämpft hatte und wo Boetti selbst wichtige künstlerische Projekte entwickelt hatte, erhielt der Teppich symbolisch seinen Platz.

Während Torres die Annäherung an Boetti suchte, indem er fiktive Faxe und Reliquien sammelte, um dessen Werk in seinen Dimensionen sichtbar werden zu lassen, platzierte Alys Boettis Werk an Stelle seiner eigenen Arbeit, um über das Werk und die Biographie die politisch-historischen Zusammenhänge anschaulich zu machen. Die Leiterin der dOCUMENTA (13) begibt sich auf die gleiche Ebene, auf der sich Boetti, Alys und Torres bewegen, indem sie das Spiel mit Legenden und Codes fortsetzt. Wir werden uns die Namen Alys, Torres und Boetti mit Blick auf die kommende documenta merken müssen.

14./16. 6. 2010

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