In den letzten Jahren erlebte die Kunstszene eine Rückbesinnung auf die konstruktive Kunst. So war es kein Zufall, daß das Museum Fridericianum in Kassel erst die Ausstellung Rot Gelb Blau zeigte und dann das Werk des Schweizer Malers Richard Paul Lohse, der im Herbst 86jährig starb. Lohses Schaffen stand lange im Schatten des anderen großen Schweizer Konstruktivisten, des Malers und Bildhauers Max Bill, der heute 80 Jahre alt wird.
Wie Lohse gehört Bill zur zweiten Generation der Moderne. Er war von 1925 bis 1927 Schüler des legendären Bauhauses in Dessau, an dem alle Kraft daran gesetzt wurde, mit der Kunst gestaltend ins Leben hineinzuwirken. Bill gelang es, diese Idee in seinem Werk zu verwirklichen. Seit vier Jahrzehnten steht sein Name für die klare und strenge Formensprache, für die aus mathematischen Grundsätzen entwickelte (und dementsprechend jederzeit nachvollziehbare) Kunst.
Bill wirkte als Grafiker und Maler, als Formgestalter und Architekt. Mit seinen Skulpturen und Kunst-am-Bau-Projek.ten drückte er zahlreichen Gebäuden seinen Stempel auf. Das wiedererwachte Interesse am konstruktivistischen Gestaltungsprinzip führte dazu, daß der 80jährige Künstler derzeit Mühe hat, allen Aufträgen und Wünschen gerecht zu werden. Einige kleinere Ausstellungen in Zürich aus Anlaß seines Geburtstages mußte er kurzfristig absagen. Wie viele Künstler würden sich einmal in ihrem Leben eine solche Situation herbeiwünschen!
Untrennbar ist der Name dieses Mannes mit der Ulmer Hochschule für Gestaltung verbunden, deren Rektor Max Bill von 1951 bis 1956 war. Bill übernahm im Laufe seines Lebens auch zahlreiche andere Funktionen. 1982 wurde er mit dem Goslarer Kaiserring ausgezeichnet. Da war die Ehrung des Konstruktivisten wie eine Auflehnung gegen die damals gefeierte wilde Malerei. Für Bill selbst bedeutet die Beschäftigung mit der mathematisch fundierten Kunst nicht den Verzicht auf Emotionen. Mit Lust gibt er sich der Geometrie hin. Sie ist für ihn der Quell der Schönheit.
HNA 22. 12. 1988