Freude an der Fülle der Früchte

Im Frühsommer 2000 soll die Kasseler Gemäldegalene in Schloß Wilhelmshöhe wiedereröffnet werden. Vor diesem Hintergrund stellen wir 26 Bilder der Galerie vor, die auch jetzt zu sehen sind.

Frische Erdbeeren im Oktober. Für eine Zeit, in der alles getan wird, um die Wachstumsabläufe der Natur zu überlisten, ist dies nichts Außergewöhnliches. Aber selbst für unsere verwöhnten Augen wirkt ein Marktstand wie der, den Joachim Beuckelaer (um 1530 – um 1574) gemalt hat, unwirklich. Denn hier sind so gut wie alle Gartenfrüchte versammelt, die von Juni bis Oktober reifen, die also gleichzeitig nicht greifbar sind. Folglich liegt der Gedanke nahe, der Antwerpener Maler, der bei seinem Onkel Pieter Aertsen lernte, habe im lexikalischen Sinne alle gängigen Früchte und Gemüse auf einem Bild darstellen wollen – auch, um so seine hervorragende Könnerschaft zu demonstrieren.

Doch dahinter steckt mehr, wie die überbordende Fülle andeutet. Aertsen und sein Neffe Joachim
Beuckelaer haben wesentlich zur Ausbildung des Stillebens als eigener Gattung beigetragen. Dabei war Aertsen ursprünglich von biblischen Themen ausgegangen, die er mit Stillebenmotiven ausschmückte. Bei seinem Neffen verlor sich mitunter der biblische Zusammenhang. Trotzdem wird das durch eine Figur belebte Stillleben „Die Gemüsehändlerin“ in der religiösen Tradition gesehen: Der überquellende Marktstand wird als ein Sinnbild der grenzenlosen Genußsucht gesehen. So ist das Gemälde ein Dokument der sinnlichen Freuden und eine Warnung vor ihnen. Auch die junge Frau, die die Ware feilbietet, paßt in diesen Rahmen: In ihren Händen hält sie einen Vogel (eine Ente), der auf die Liebesfreuden anspielen soll.

In einem fast gleichartig angelegten Bild, das in Valenciennes hängt, wurde Beuckelaer deutlicher.
Da ist im Hintergrund ein Liebespaar zu sehen.

HNA 17. 10. 1999

Schreibe einen Kommentar