Früchte eines ganzen Jahres

Als die großen Kompositionen in der Malerei galten lange Zeit die Historienbilder sowie religiösen und mythischen Themen. Die Maler der Landschaften und Stilleben wurden eher als meisterliche
Zuträger eingestuft. Erst relativ spät emanzipierten sich die Schöpfer solcher Motive. Das Stilleben bildete sich im 16. Jahrhundert heraus und reifte dann sehr schnell zu einer großen Blüte.

Für unsere Augen bietet das Bild nichts Sensationelles, denn wir sind es gewohnt, beim Gang über den Markt oder an den Obst- und Gemüseständen der Kaufhäuser fast täglich alles vorzufinden, was unser Herz begehrt – die herbstlichen Birnen neben den frühsommerlichen Kirschen, die Beeren neben dem Kohl und die Weintrauben neben den Gurken. Jahreszeiten können wir am Obst- und Gemüseangebot unserer Wohlstandgesellschaft kaum ablesen.

Doch als der Antwerpener Joachim Beuckelaer (etwa 1530 – 1574) dieses „Marktstück“ malte, war dieses Bild alles andere als realistisch. Da fand man auf dem normalen Markt keineswegs die hier versammelten Früchte in dieser Üppigkeit beieinander. Beuckelaer schuf also kein dokumentierendes, sondern ein idealisierendes, ein programmatisches Bild: Er führte alles mit malerischer Perfektion zusammen, was die Augen und den Gaumen erfreut. Die neben- und übereinander gestapelten Körbe öffnen sich einladend, die Fülle der Natur vorweisend und die Lust der Betrachter weckend.

In der Zeit, in der Beuckelaer sein Bild (zu dem es in Valenciennes ein Gegenstück mit dem nahezu gleichen Früchte- Arrangement gibt) malte, führten die Moralisten das Wort, die vor der allzu diesseitigen Orientierung der Menschen warnten und wider die große Sinnenlust predigten. In diesem Bild werden die fleischlichen Begierden sehr wohl angeregt; und Gregor Weber verweist in der Deutung des Gemäldes (,‚Stilleben alter Meister“, Verlag Gutenberg, Melsungen) darauf, daß das Motiv der Magd, die einen Vogel rupft; diese Zielrichtung noch verstärke. Mag sein, daß Beuckelaer wie viele Stillebenmaler nach ihm die Mahnung der Moralisten im Sinn hatte, als er das Gemälde schuf. Doch die moralische Seite wird von der U pigkeit zugedeckt; es bleibt lein die Sinnenfreude.

Das „Marktstück“ steht an der Schwelle zur reinen Stillebenmalerei. Streng genommen handelt es sich um ein Genre-Bild, auf dem in einer klar umrissenen Landschaft eine junge Frau bei ihrer Arbeit gezeigt wird. Doch die Landschaft ist weit zurückgedrängt, allein die sehr dominante Figur verbietet, von einer Nature morte, wie die Franzosen das Stilleben nennen, zu sprechen.

HNA 24. 10. 1993

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