Ängste, Erinnerungen und Träume

Heftige Kritik auf der einen Seite, breites, lebhaftes Publikumsinteresse auf der anderen: die Kasseler documenta IX im Spannungsfeld. Was bleibt am Ende des Kunstjahres?

Das Ding sah aus wie eine große Volksbelustigungsmaschine: In einem riesigen, dreibeinigen Stahlgerüst entfaltete sich ein zusammengeschobener Balg nach oben. Wenn er seine volle Ausdehnung erreicht hatte, leuchtete der „Kopf“ des Balgs auf. Wenig später flog unter großem Getöse eine Klappe zu und verschloß am unteren Ende des Maschinenungetüms einen durchsichtigen Behälter.

Kunst als eine Form der besseren Unterhaltung. In der Tat bereiteten die Dehnungen und Schrumpfungen der Maschine vielen Besuchern der documenta IX großes Vergnügen; und gerne ließen sich einige immer wieder von dem lauten Knall überraschen. Der Schwede Ulf Rollof hatte mit seiner Fliegentötungsmaschine eine Attraktion für die documenta-Halle geschaffen – voller phallischer Symbolik.

Aber ging es nur um das reine Vergnügen? Kaum: Versuchte man nämlich nachzuvollziehen, mit welchem Aufwand und mit welcher Präzision da ein Riesengerät entwickelt worden war, um die kleinen lästigen Fliegen einzufangen und zu töten, dann fand man den Zugang zu den Ideen, die Rollof bei seiner Arbeit beflügelt haben mochten: Der Mensch setzt seinen ganzen Erfindungsgeist und seine Energie dazu ein, um Tötungsmaschinen zu konstruieren; selbst wenn Aufwand und Erfolg in keinem Verhältnis zueinander stehen, läßt er sich nicht beirren.

Unversehens verwandelte sich die harmlos-heiter scheinende Maschine in ein Produkt des Schwarzen Humors. Mit seiner Maschine wischte Rollof die Frage vom Tisch, warum es auf der documenta IX keine Werke zu sehen gab, die sich kritisch oder anklagend mit dem grausamen Morden im ehemaligen Jugoslawien oder in anderen Teilen der Welt auseinandersetzten. Tiefgreifender und grundsätzlicher und dabei eingängiger als mit diesem absurden Fliegentöter konnten die Fehlentwicklungen menschlichen Geistes gar nicht kommentiert werden.

Rollofs Arbeit war in der documenta kein Einzelfall. Bruce Naumans quälende Video-Installation mit den Schreien, die einen noch durch das halbe Museum Fridericianum folgten, oder das riesige Holzfaß von Louise Bourgeois mit alptraumhaften Kindheitserinnerungen paßten ebenso in diese Reihe: Ohne daß vordergründige aktuelle Bezüge hergestellt wurden, war die documenta IX angefüllt mit Arbeiten, die an die Nerven rührten, über die unterschiedlichen Sinne Erinnerungen, Ängste, verlorene Hoffnungen und zerbrechliche Träume wachriefen.

Ganz unabhängig von der Frage nach der Qualität Kunst war ein Panorama standen, angesichts dessen Besucher nicht gleichgültig bleiben konnten. Sie wurden angerührt – und aufgebracht gegen diese Kunst und das dahinter stehende Auswahlprinzip oder gefangen genommen von der Direktheit, Emotionalität und Vielschichtigkeit der Arbeiten.

Jan Hoets documenta IX, das ist richtig, hat die bestehende Ratlosigkeit über die Tendenzen der Kunst nicht beseitigen können. Die Ausstellung hat, was die Orientierung in der Kunstszene anbetrifft, ebenso wenig Antworten geben können wie die Unternehmungen anderer Ausstellungsmacher. Doch der eigentliche Widerstand gegenüber der Kasseler Kunstschau hatte – läßt man einmal persönliche Fehden beiseite – andere Gründe: Hoets zur Kunstszene quer gedachter Ansatz widersetzte sich den gängigen Einordnungsmustern. Statt der gewohnt Haupt- und Nebenwege wurde durch Einzelgänger und Außenseiter eine Art Irrgarten entwickelt, in dem nicht mehr die kunsthistorischen Kriterien Orientierung ermöglichten, sondern das subjektive Erfahrungspotential.

Ein schwieriges und angreifbares Konzept, das aber für viele funktionierte. Vor allem leistete die documenta IX eines: In einer Zeit, in der sich alle möglichen Kräfte der Kunst und Kultur bemächtigen, in der Kunst immer wieder Gefahr läuft, zum unverbindlichen Unterhaltungsprodukt zu werden, führte die documenta IX in zahlreichen Bereichen vor, daß Kunst direkt etwas mit unserer Zeit und unserem Leben zu tun hat, daß die Kunst helfen kann, Einsichten in die Zusammenhänge der Welt zu vermitteln – auch dort, wo Künstler wie Jan Fabre oder Jonathan Borofsky den Rückgriff auf die ganz banale menschliche Figur wagten.

Selbst in Arbeiten wie Per Kirkebys Backsteinbau neben der documenta-Halle erwies sich, daß das anscheinend bloß ästhetische Vergnügen Seh- und Erlebnisweisen grundsätzlich ändern kann.

Kunstfreunde mögen es als peinlich empfinden, daß Jan Hoet für seine documenta mit dem Bambi ausgezeichnet wurde. Ist denn die Kunst zur Show verkommen? Immerhin stimmt: Wie kaum ein anderer zuvor hat der belgische Museumsmann für die Popularisierung der Kunst gesorgt – nicht durch Vereinfachung, sondern durch geschicktes sinnliches Arrangement. Hoet führte vor, wie man Kunst zur Show machen kann, ohne daß darüber die Kunst vergessen werden konnte. Sein größter Fehler war nur, daß er nichts dagegen unternahm, daß sich die wenigen Sponsoren im documenta-Umfeld so breit machen konnten. Das Randereignis Kunst-Sponsering schien so zum Zentralthema zu werden.

Es mag sein, daß für die kunsttheoretischen Diskussionen die documenta IX nicht viel gebracht hat. Umso mehr hat das Kunsterlebnis von dieser Ausstellung profitiert. Und daß die ausgewählten Werke den Qualitätsstandard der internationalen Szene nicht gehalten hätten, kann wohl nicht sein:
Lange nicht wurden von Museen so viele Kunstwerke direkt aus einer documenta angekauft wie in diesem Jahr.

HNA 31. 12. 1992

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