Was ist ein Bild?

Alles scheint klar zu sein: Wir leben in einer Welt voller Bilder. Das Fernsehen und der Film, die Zeitungen und Zeitschriften, die Werbeflächen und Hobbyfotografen produzieren solche Bilderfluten, daß wir darin zu ertrinken drohen. Dabei sollen die Bilder helfen, die Wirklichkeit anschaulich zu machen.

Was aber registrieren wir wirklich? Anders gefragt: Wo beginnt und endet unsere Wahrnehmungsfähigkeit? Oder noch besser: Was erscheint unseren Augen als Bild?
Gehen wir dieser Frage nach, stoßen wir schnell darauf, daß unter diesem Begriff weit mehr zu verstehen ist als nur das Spektrum zwischen Malerei und Fotografie. Auch die beschriebenen und bedruckten Seiten sind Bilder (nicht umsonst hat sich das Wort „Schriftbild“ durchgesetzt). Alles optisch Wahrnehmbare kann für uns zum Bild werden – eine Wand, eine Druckzeile oder eine Zeichenfolge.

Der Frankfurter Künstler Heiner Blum, der 1959 in Stuttgart geboren wurde und in Kassel studierte, hat frühzeitig begonnen, über die normale Wahrnehmung hinauszudenken. Wie ein Schwamm saugt er die Bildbotschaften in sich auf, auf die er stößt – Fotos, Texte, Reproduktionen, eben alles Visuelle, das als Dokument fixiert ist. In einem Archiv lagert er die Fundstücke, bis sie später in neuen Zusammenhängen wichtig und aussagekräftig werden.

Blum sieht in dieser Arbeitsweise einen Stoffwechselvorgang. Er erfindet nichts, sondern verarbeitet und verformt. So begegnen wir in den Arbeiten Blums den Bestandteilen unserer Welt, ohne daß wir sofort ihre Herkunft erkennen. Dieser Prozeß der Loslösung (Abstraktion) erschließt uns die Sprache der Dinge neu: In einer Reihe von Bildkästen etwa spielt Blum mit dem „TV“ -Zeichen, das zu einem Schlüsselsymbol unseres Fernsehzeitalters geworden ist. Indem er diese beiden weißen Buchstaben auf schwarzem Grund mal hoch, mal quer und mal auf den Kopf stellt, werden daraus Ursymbole, Runen.

Was ist ein Bild? Blum beantwortet diese Frage auf ganz eigene Art. Bereits vor vier Jahren hatte er innerhalb der Ausstellung „City“ im Kasseler Kunstverein seine Bild-Wort- Kunst vorstellen können. Nun hat ihm der Kasseler Kunstverein eine Einzelausstellung ermöglicht, in der er seine Vorstellungen in weit größeren Dimensionen verwirklichen kann. Das Bild ist hier nicht mehr ein (gerahmtes) Objekt, das man an eine Wand hängen kann, sondern ein raumbestimmendes Element: Blum hat sämtliche Fenster des Kunstvereins eingeschwärzt und mit Hilfe von Schablonen genormte Durchblicke stehen gelassen – Ziffernblätter, Plus- und Minuszeichen und Buchstaben. Der Blick nach draußen wird vorgeformt, andererseits projiziert die auf die Fenster scheinende Sonne die Zeichen als Leuchtbilder in den Raum. Das Bild wird zum Bestandteil des Umfeldes, der Raum wird neu definiert.

Heiner Blum greift unmittelbar in den Wahrnehmungsprozeß ein. Bekanntes wird fremd, die festen Vorstellungen lösen sich auf. Aber er gibt keine einfachen (oder schnellen) Antworten auf unsere zweifelnden Fragen.

Den Überdruß, den bei uns der ständige Wettlauf mit der Uhr auslöst, hebt er nicht bloß auf, indem er das Ziffernblatt der Zeiger beraubt. Er geht weiter und gibt dem Ziffernblatt – als schwebender Raumprojektion – seinen Glanz zurück.

Eigentlich gibt Blum gar keine Antworten. Vielmehr stellt er unseren Fragen eigene gegenüber, wundersame und rätselhafte. Wir werden nicht zur Analyse eingeladen, sondern zur nachdenklichen Betrachtung, zur Meditation. Die Zeichen und Worte haben eine neue Ausdruckskraft erhalten. Die will erfahren werden.

HNA 12. 5. 1989

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