Zugang zu neuen Welten

Die Video-künstlerin Sophia Pompéry (1984 in Berlin geboren) liebt es, die Dinge auf den Kopf zu stellen und scheinbar die Naturgesetze außer kraft zu setzen: In milk läuft in einem endlosen Strahl Milch in eine Schale, ohne dass sich diese erkennbar füllt. Und in Eratnac Imetaishal singt sie den Gassenhauer Lasciatemi cantare in einer italienischen Straße rückwärts, während sich hinter und neben ihr Fußgänger und Fahrzeuge sich ebenfalls rückwärts bewegen.

Sophia Pompéry spielt auf faszinierende Weise mit unseren Sehgewohnheiten und Erwartungen und öffnet unseren Augen einen Zugang zu neuen Welten, wenn sie eine mit Milch gefüllte Wanne leuchten lässt oder wenn sie beim Spielen auf einer Kawala (arabische Flöte) mit Hilfe des Instruments eine Seifenblase hervorbringt, in der sich der Raum spiegelt und die Atmosphäre in Bewegung zu sein scheint. Genauso faszinierend ist die Idee, das eigene Spiegelbild, das in einem Teller mit Wasser zu sehen ist, leer zu trinken.

Unter dem Titel An den Rändern offen hat Sophia Pompéry sechs Videoarbeiten auf einer DVD zusammengefasst, die alle in irgendeiner Weise irritieren und gleichzeitig voller Spannung sind. Die sechste Arbeit, lighting up, burning down, die jetzt auch als Teil der Vehbi Koc Collection in der Instanbuler Ausstellung Starter gezeigt wird, passt sehr gut in die Reihe, nimmt gleichwohl eine Sonderstellung ein.

Man sieht in dem Video eine weiße Kerze, die in der Mitte an einer Wand befestigt ist und die an beiden Enden brennt. Besonders verblüfft, wie gleichmäßig beide Flammen brennen und wie unbeirrt auch die Flamme am unteren Ende nach unten weist. Allerdings trägt die Künstlerin selbst dazu bei, das Geheimnis zu lüften. Denn die Bilder sind mit einem Geräusch unterlegt, das von einem Staubsauger stammt, der mit seinem Rohr die Flamme ansaugt und nach unten zieht.

Mit dem Kerzen-Motiv stellt sich Sophia Pompéry in eine sehr lange ikonografische Tradition. Insbesondere im Barock und im Manierismus liebten es die Maler, mit den Effekten der Kerze zu spielen. Denn in einer dunklen Szenerie konnte sich das grelle Licht der Kerze vorzüglich verbreiten. Die ausschnitthafte Beleuchtung wurde wie ein Zaubermittel eingesetzt, um einzelne Personen oder Gegenstände aus dem Dunkel hervorzuholen und andere zu unterdrücken.

lighting up, burning down

Doch immer verband sich auch mit dem Kerzenlicht das Vanitas-Motiv: Die herunterbrennende Kerze stand für die Endlichkeit des Lebens und erinnerte – bei aller Wärme und Helligkeit – an die Erwartung des Todes. Als Gerhard Richter in der Zeit um 1982/83 mehr als zwei Dutzend Gemälde schuf, auf denen eine, zwei oder drei Kerzen zu sehen waren, malte er neben ganz undramatischen Kompositionen wenigstens ein Gemälde, in dem neben einer brennenden Kerze ein Totenschädel lag. Wie sehr für ihn das Kerzen-Motiv auch ein Vanitas-Bild war, beweist die Tatsache, dass 1983 parallel mehrere Gemälde von Kerzen und Totenschädeln entstanden.

Gerade in einer Ausstellung wie „Starter“, in der die Fluxus-Künstler und Video-Pioniere stark vertreten sind, wird eine weitere Traditionslinie bewusst: Nam June Paik hat mehrere Arbeiten mit Kerzen realisiert. Wer also an ein Kerzen-Video denkt, kommt an Paik nicht vorbei. Dessen in dieser Beziehung radikalste Arbeit bestand aber in der Überwindung von TV und Video: 1975 stellte Paik eine echte brennende Kerze in ein leeres Fernsehgehäuse und ließ somit die Wirklichkeit über die technischen Medien triumphieren.

Radikal ist auch der Zugang von Sophia Pompéry: Sie lässt das Unmögliche als machbar erscheinen. Das, was eigentlich nicht sein kann, wird wirklich. Das Naturgesetz wird spielerisch überwunden. Aber noch mehr als die Frage nach den psysikalischen Bedingungen, unter denen die Flammen leuchten, beunruhigt der Vanitas-Bezug der Kerze, die an beiden Enden brennt. Denn wenn die Zwillingsflammen weiterhin parallel brennen, verdoppelt sich die Geschwindigkeit, mit der das Ende (der Tod) erreicht wird.

3. 8. 2010

http://www.sophiapompery.de/works.html

http://www.gitteweisegallery.com/

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