Vertraute Nähe

Zu vier Künstlerporträts von Dieter Schwerdtle

Franz West kehrt gern die österreichische Schnoddrigkeit heraus. Er liebt die Pose des Lässigen und Zufälligen. Wenn man ihm aber beim Aufbau von Objekten zuschaut, sieht man, wie er mit einer gewissen Wurstigkeit die Präzision seiner Installation überspielt.

Der documenta-Teilnehmer war nach Kassel gekommen, um in der Kunsthalle Fridericianum seinen Ausstellungsbeitrag zu einem „Museum auf Zeit“ umzugestalten. Die geschaffene Atelieratmosphäre in seinem Raum war ihm anfangs nicht chaotisch genug. Dann aber wollte er plötzlich Ordnung schaffen und aufräumen. Aber bevor er an das Werk ging, musste er, wie er meinte, vom Feiern übernächtigt, ausruhen. Plötzlich lag er auf einer seiner beiden Eisenbänke mit geschlossenen Augen hingestreckt – wie ein schlafendes Kind im Bett oder wie ein Penner auf der Parkbank.

War ihm alles egal oder wollte er nur demonstrieren, wie gut sich auf seinen Bänken mit ihren bunt gemusterten Bezügen schlafen lässt? Beides ist denkbar – die Unbekümmertheit eines Künstlers, der nur seinen momentanen Bedürfnissen folgt, ohne auf die anderen Rücksicht zu nehmen, oder die raffinierte Geste, die über ihn selbst auf sein Werk verweist. Gleich wie – das war einer der glücklichen Momente, auf die ein Fotograf wartet. Dieter Schwerdtle nutzte ihn in der ihm eigenen Art. Das Bild konzentriert sich ausschließlich auf den Künstler und seine Bank. Es zeigt uns den Künstler, wie er ganz bei sich selbst ist – entspannt und ohne Rücksicht auf das, was um ihn herum passiert. Das Foto strahlt Ruhe aus und ist voller Natürlichkeit. Es charakterisiert den Künstler in seiner Lässigkeit und stellt ihn uns mit großer Sympathie vor.

Gleichzeitig weist die Aufnahme vom Künstler auf sein Werk. Franz West beschäftigt sich gern mit Skulpturen, die auf den menschlichen Körper bezogen sind. Dabei entwirft er immer wieder Möbelskulpturen, die zum Benutzen einladen: Schaut her, hier kann man liegen, demonstriert der Künstler. Schwerdtles Bild braucht keinen Kommentar. Es trägt die Botschaft von Franz West in die Welt.

Über ein Jahrzehnt ist inzwischen vergangen. Damals wirkte das Foto eher witzig und provokativ. Und heute? Es rührt an und stellt über die Distanz von Zeit und Raum eine vertraute Nähe her. Nein, das Bild macht uns als Betrachter nicht zu Voyeuren. Es bringt uns den Künstler in seiner Eigenart nahe. Das ist genau das, was wir von einem Künstlerporträt erhoffen. Uns fasziniert sein Werk, und über sein Bild wollen wir den Menschen kennen lernen, der hinter dem Werk steht, um durch ihn wiederum einen besseren Zugang zu seiner Arbeit erhalten.

Der Fotograf ist ein Medium. Er stellt durch sein Porträt eine Verbindung her, die die meisten sonst nicht erreichen würden. Porträtieren sei wie ein Gespräch, meint Schwerdtle. Da entwickelt sich etwas. Der Künstler verschließt sich oder öffnet sich, er stellt sich zur Schau oder ist selbst versunken.

Dieter Schwerdtle ist bescheiden. Er mache keine Kunst, sagt er. Er inszeniert nicht und zwingt die Porträtierten nicht in eine Form, um mit seiner Handschrift über sie zu triumphieren. Nein, er hält sich zurück und stellt eine Atmosphäre her, in der er und seine Kamera keine Distanz schaffen, sondern zu natürlichen Begleitern werden, in der die Künstler ganz sie selbst bleiben dürfen. Auf diese Weise sind die Fotos eben doch weit mehr als nur glückliche Momentaufnahmen. Sie gewinnen künstlerische Kraft, weil sie in dem einen Bild die Komplexität einer Persönlichkeit einfangen.

Nehmen wir ein anderes Bild, das Porträt von Harry Kramer. Wer ihn gekannt hat, hat ihn genau so gesehen. Ja, das Foto vor Augen, kann man sich gar nicht vorstellen, dass Kramer nicht mehr lebt. Es ist alles drin in dem Bild. Das offene Hemd, das den Blick auf seine behaarte Brust zulässt, deutet auf seine männliche Pose, die er so gern herauskehrte. Der angeschnittene Kopf ist gesenkt, aber das linke Auge verrät den wachen Geist. Wie oft hielt Kramer auch im Gespräch inne, um den Kopf aufzustützen und für alle erkennbar nachzudenken? Die Aufnahme, die Schwerdtle von unten machte, spiegelt das in hervorragender Weise. Obwohl die stützende Hand angeschnitten ist, sehen wir noch überdeutlich die Zigarette, die Kramer zwischen den Fingern hält, und den Rauch der zart aufsteigt. Eine Erinnerung daran, dass Kramer bis zu seinem Tod ein Raucher blieb, der rücksichtslos gegen seine Gesundheit war. Das ist ein Bild, in dem hunderte Bilder stecken. Und es ist ein Foto, das selbst diejenigen packt, die Kramer nie kannten – weil es eine vitale, fesselnde Persönlichkeit präsentiert.

Der Fotograf als Partner der Künstler. Das Gespräch, das er einfädelt, gibt er an den Betrachter weiter. Nur so gelingt es, jedem Porträt seine eigene Kraft und Form zu geben. Das funktioniert selbst dann, wenn Schwerdtle den Künstler vor eine neutrale Wand bittet, um ihn in einem undefinierten Raum zu fotografieren. Der Maler Gerhard Richter war bereit dazu. Er stellte sich hin, wie er manchmal dasteht, um aus der Distanz ein Werk oder eine Ausstellung zu begutachten. Das eine Bein ist leicht vor das andere gestellt. Dadurch wird seine Schulter schief. Die linke Hand steckt lässig in der Tasche, die andere hängt nach unten und wirkt so, als wollte Richter die Zigarette, die zwischen den Fingern hält, wegdrehen, damit der Rauch nicht störe oder die Zigarette gar nicht gehen werde. Aber Schwerdtle hat ein Dreiviertelporträt gemacht. Auf dem bleibt auch noch die Hand mit der Zigarette zu sehen.

Gerhard Richter steht frontal vor uns, aber trotzdem entzieht er sich uns, weil sein Blick nach links geht. Auch bei diesem Porträt gilt wieder: Das Wesen des Künstlers ist exakt erfasst – sein Selbstbewusstsein und seine Entschiedenheit, seine Zurückhaltung und seine Liebe zur Distanz. Schwerdtle hat diese Charakterzüge eingefangen und damit – wie bei Kramer – ein Foto geschaffen, das zu dem einen Porträt werden kann.

Porträts, so wie sie Schwerdtle gestaltet, spiegeln die ganze Spannbreite der Fotografie. Auf den ersten Blick kann das Bild, das Gerhard Merz in der Neuen Galerie in Kassel zeigt, beiläufig erscheinen. Ist das überhaupt ein Porträt? Man sieht den Konzeptkünstler von weitem, wie er im weißen Malerkittel, die Brille in der Hand, für einen Augenblick beim Durchschreiten des Raumes innehält. Hinter ihm ist eine lange weiße Wand zu sehen, vorne deuten hingelegte Latten einen Grundriss an.

Hier nun haben wir eine völlig andere des Persönlichkeitszugriffs vor uns. Der Künstler Merz steht in der Weite des Raumes. Man sieht förmlich, wie er ihn ausmisst und über ihn nachdenkt. Die Aufnahme entstand bei der Vorbereitung der documenta IX (1992), zu der Gerhard Merz in die Eingangshalle der Neuen Galerie eine hermetische Skulptur in Form eines verschlossenen Hauses setzte. Das heißt: Wir erleben in dem Foto den Künstler, der den Raum neu definierte, wie er sein persönliches Verhältnis zum Raum sucht. Das Bild führt also geraden Weges zu der Arbeit des Künstlers. Die vorne ausgelegten Latten markieren bereits die Umrisse des Werkes.

In einer ähnlichen Vorbereitungsphase entstand ein Foto, das zu den bekanntesten Bildern von Dieter Schwerdtle geworden ist. Es zeigt Joseph Beuys in Kassel, wie er kräftig, mit wehendem Mantel, ausschreitet. Das Motiv ergab sich ohne Vorbereitung. Zur Besprechung der Aktion „7000 Eichen“ hatten sich Beuys und documenta-Leiter Rudi Fuchs mit anderen vor dem Museum Fridericianum getroffen. Plötzlich, mitten im Gespräch, lief Beuys los, um seine Gedanken anschaulich zu machen. Schwerdtle lief mit und erwischte von vorn.

Das Frappierende ist, dass das Foto die entschiedene Bewegung einfängt, es aber so komponiert ist, als hätte Schwerdtle schon seit langem seine Kamera so ausgerichtet. Das Bild ist punktgenau auf den Portikus des Fridericianums ausgerichtet. Die Spitze bildet exakt die Mitte des Fotos. Auf diesen Bau ist alles ausgerichtet. In ihm findet die documenta 7 statt, zu der Beuys seine Pflanzaktion beginnen will. Rechts im Bild ist auch auf dem Bauzaun der Schriftzug der kommenden documenta zu sehen. Und links hinter Beuys sieht man Rudi stehen.

Wir sehen Joseph Beuys auf uns zukommen, wie er sich einer ganzen Generation eingeprägt hat. Unverkennbar ist seine Gestalt mit Fliegerweste und Filzhut auf dem Kopf. Seine in die Ferne gerichteten Augen verraten den lebendigen, offenen Blick. Ungewohnt an ihm ist der schwarze Mantel, den er offen trägt und dessen linke Seite davon zu fliegen scheint. Eine große Geste, ein ungewöhnliches Projekt kündigt sich an.

Das Foto hat darüber hinaus symbolische Bedeutung: Der Holländer Rudi Fuchs hatte zum Rückzug ins Museum geblasen. Er hielt nicht viel von der Ausbreitung der Kunst in der Stadt. Das Fridericianum sollte damit zum Zeichen zur Wiederbelebung des Museums werden. Aber Joseph Beuys, den Fuchs sehr schätzte, entzog sich diesem Trend. Er, der 1972 und 1977 die documenta als Plattform für Gespräche und Diskussionen genutzt hatte, wollte mit seiner Aktion „7000 Eichen“ endgültig das Museum verlassen. Einzig die Lagerung der 7000 Basaltsäulen, die den Bäumen beigegeben werden sollten, wollte er auf dem Friedrichsplatz dem Fridericianum zuordnen.

Eben diese Abwendung verkündet das Bild von Schwerdtle. Es zeigt die drei Beszugspunkte Fridericianum, documenta 7 und Rudi Fuchs und dokumentiert, wie Beuys mit entschiedenem Schritt das Museum hinter sich lässt, um in den Stadtraum zu gehen. Und er vollzieht den Bruch unter den Augen von Fuchs, der gerade nicht zusieht. Alles das steckt in dem einen Foto. Das aus dem Moment entstandene Porträt erzählt eine ganze Geschichte. Das ist wahrhaftig Kunst.

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