Die Gotik und die Moderne

Vor fast 400 Jahren kam beim Bildersturm der Marienkapelle in Frankenberg der reiche gotische Figurenschmuck abhanden. Die Kapelle, einst von Wallfahrern besucht, geriet ins Abseits. Als vor zwei Jahren der Bildhauer Ansgar Nierhoff für die Stadt, in der er zeitweilig gelebt hatte, einen großen Werkkomplex schuf, entdeckte er die Kapelle für sich. Jetzt wird darum gerungen, seine Arbeit auf Dauer in der Frankenberger Kapelle zu halten.

Wo hat die zeitgenössische Kunst ihren Ort, zumal dann, wenn sie nichts in der gewohnten Weise erzählt? Als der Bildhauer Ansgar Nierhoff 1993 für die Stadt seiner Schulzeit, für Frankenberg, ein mehrteiliges Kunstprojekt realisierte, war die Antwort klar: Die Kunst kann überall ihren Ort finden, wenn nur der Künstler auf die Bedingungen des Raumes reagiert.

Nierhoff entwickelte dieses Gespür, denn jenseits einer beliebig aufbaubaren Ausstellung schuf er ganz spezielle, für die Räume konzipierte Arbeiten. Seine in die Liebfrauenkirche gehängten Eisenzeichnungen wirkten vom ersten Moment an so, als wären sie – Kreuzwegreliefs, Gedenktafeln oder Grab- platten nicht unähnlich – schon immer Teil der gotischen Architektur gewesen.

Die zentrale Arbeit aber sollte die drei- bzw. vierteilige Skulptur Nierhoffs für die an die Liebfrauenkirche angebaute Marienkapelle werden. Nierhoff nannte sie „Ausgleich nach Bildersturm“: er gibt der Kapelle Formen zurück, nachdem sie Jahrhunderte lang nach dem Bildersturm von 1605 leer und ihrer Bedeutung beraubt schien. Für im Umgang mit zeitgenössischer Kunst ungeübte Besucher mag diese Skulptur sperrig sein, weil sie sich nicht selbst erklärt und weil sie wie zufällig hingelegt und gestellt wirkt. Aber die Offenheit bietet die Chance zu unterschiedlichen Deutungen.

Nierhoffs wichtigste Leistung besteht darin, daß er die gotische Kapelle wiederentdeckt und geöffnet hat. Die verschwundene Bildfiguren ersetzt er nicht durch andere, sondern durch Zeichen – eine zweiteilige runde Scheibe, eine Kugel und ein Rundstab. Die vier Teile aus geschmiedetem Eisen sind fest aufeinander bezogen, denn jedes ist aus der gleichen Menge hergestellt worden. Die runde Scheibe ist die ruhende Basis, die Verankerung. Die Kugel symbolisiert die Verdichtung, die Konzentration der Masse, aber auch die Vollendung und Beweglichkeit der Form. Und schließlich weist der an die Wand angelehnte Rundstab nach oben, mißt den Raum aus und lenkt den Blick auf ihn. Die Moderne führt zur Gotik zurück. Der Raum wird als ein historischer gewürdigt und erhält zugleich eine neue Bestimmung, in der die drei Formen auch für die drei Dimensionen oder drei Welterfahrungen stehen.

HNA 1. 10. 1995

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