Ein Mantel für Herkules

Doppel-Ausstellungen mit Werken gegensätzlicher künstlerischer Temperamente sind manchmal von größerem Reiz als solche, in denen Gleichartiges einander zügesellt wird. Während nämlich beim Aufspüren der Gegensätze der Facettenreichtum der Kunst offenbar werden kann, gehen oftmals beim Nachzeichnen von Gemeinsamkeiten und Parallelen die Eigenarten des einzelnen Werkes unter. Mit der Doppel-Ausstellung E. R. Nele/Edgar Hofschen bietet der Kasseler Kunstverein eine Schau, die einen Teil ihrer Spannung aus der Gegensätzlichkeit der Werke gewinnt: Eine verschlossene malerische Natur steht da gegen ein vital erzählerisches, plastisches Temperament.

E. R. Nele, Tochter des documenta-Vaters Arnold Bode und seiner Frau Marlou, genießt als Bildhauerin seit über zwei Jahrzehnten internationale Anerkennung. Sie selbst hat sich dadurch nicht einengen lassen und immer wieder nach neuen Gestaltungsformen gesucht. In Kassel stellt sie nun ihren jüngsten, in den letzten fünf Jahren entstandenen Werkkomplexe vor: Gruppen aus riesenhaften, bewegten Mänteln, aus denen die sie ausfüllenden. Figuren verschwunden sind. Diese leeren Hülsen wirken wie Überreste menschlichen Lebens, wie Botschafter aus einer Geisterwelt.

Es ist verführerisch, in ihnen die Illustrationen zu jenen Schreckensvisionen zu sehen,
die sich jetzt bei der Diskussion über die Neutronenbombe herausbilden. Rochus Kowallek schlägt in seinem kleinen Text zur Ausstellung auch diese Brücke. Doch diese Perspektive ist allzu vordergründig. Nicht, daß das politisch-visionäre Schreckensbild bei E. R. Nele ausgeschlossen wäre, doch neben die Gedanken an Entschwinden und Tod tritt bei ihr auch ein heiter-spielerisches Moment, das sich in der Ausformung einer Gestalt selbst genügen kann.

Da ist beispielsweise „Ein Mantel für Herkules“: Über eine Treppe ist ein fliegender Mantel gestülpt, dessen rechter erhobener Arm sich zu einem Federflügel auswächst. Die Künstlerin sieht die gut zweieinhalb Meter hohe Skulptur als ein Modell für einen richtigen (bronzenen) Mantel, den sie der acht Meter hohen, über der Kasseler Wilhelmshöhe thronenden Herkules-Figur umlegen möchte. Eine verführerische Idee, die von der Lust an der Form und an der Gestaltung der Bewegung im er- starrenden Material zeugt.

Die Bildhauerin baut über Drahtgerüsten mit in einer Leimlösung getränkten Lappen ihre körperlosen Figurenbilder auf. Meist sammeln sich die Figurenhülsen zu Gruppen. „Dantons Schwestern“ sind drei beschwingte kopflose Wesen; bei „Die Letzten“ sind die lebenskräftigen Skulpturen zu zerlumpten Reliefs verkümmert. Die beiden Epitaphe für Else Lasker-Schüler und Rudi Dutschke
hingegen hat E. R. Nele als Denkmäler aufgebaut mit ganz konkreten biographischen Erinnerungszeichen.

Entwurfszeichnungen, Reliefbilder und Kleinplastiken ergänzen das raumfüllende Material und geben Zeugnis davon, wie stark Neles Werk in allen Phasen plastisch angelegt ist.

Die Ölbilder und Gouachen von Edgar Hofschen haben kein Thema – außer sich selbst. Sie holen den Blick auf die Fläche, aufs Papier, auf das Segeltuch, den Jeans-Stoff oder die Leinwand. Was dort passiert, ist manchmal nur auf den zweiten Blick einsehbar, ertastbar: Die Farbe ist auf ihre Nuancen reduziert und entfaltet sich in so direkter Nachbarschaft zu dem Malgrund, daß man sie als stoffliches Element zu erleben glaubt. Hofschen holt alltägliche Farblandschaften in seine Bilder – man mag an angekratzte graue Mauern oder Tafeln denken. Und indem nur ein Farbbereich (grau-braun oder grau-blau) seinen Variationen auf einer Fläche ausgespielt wird, beginnt das Auge, Nahtstellen als Grenzlinien, Klebestreifen als Lichtspuren und Flächen als Farbräume zu erleben. Die daneben gezeigten Zeichnungen und Collagen, die unterschiedliche Materialien zusammenbringen oder die Flächen aufbrechen, erscheinen gegenüber den stillen Farbräumen wie dynamische Ausbrüche ins Zeichenhafte.

HNA 26. 9. 1981

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