Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) liebt es, mit dem Publikum, das die Entwicklung der dOCUMENTA (13) genau beobachtet, zu spielen. Hier handelt sie im Verborgenen, da hinterlässt sie einige Spuren und dort führt sie erste Künstlernamen in die Debatte ein, um deren Projekte vorzustellen, bei denen man jedoch nicht zuverlässig weiß, ob und wie sie mit der dOCUMENTA (13) zu tun haben.
Anfang Juni hatte CCB auf der documenta-Homepage mitteilen lassen, dass sie in Kabul einen Vortrag gehalten habe und zu diesem Vortrag unter anderem von den Künstlern Francis Alys und Mario Garcia Torres begleitet worden sei. Dazu ließ sie das Foto von Boettis One Hotel in Kabul stellen. Sie überließ es den Lesern dieser Nachricht, ob sie nun auf eigene Faust nach Hintergründen und Zusammenhängen dieser Künstler in Bezug auf Kabul fahnden würden oder sich mit diesen Andeutungen begnügten. Ich fühlte mich herausgefordert und stellte meine Erkenntnisse und Spekulationen am 14. 6. in diesem Blog vor (http://dirkschwarze.net/2010/06/14/boetti-torres-und-das-one-hotel/).
Jetzt ist auf der documenta-Homepage die Mitteilung vom Juni verschwunden. Dafür stehen, wiederum mit dem Foto von Boettis One Hotel, auf der Homepage die Videos von dem Auftritt in Kabul. Dabei stellte sie den Anthropologen Michael Taussig als ein Mitglied ihres Beraterkreises und Garcia Torres sowie Alys als Künstler der dOCUMENTA (13) vor – so dass sich die Spekulation um die Rolle der beiden bewahrheitete. Alys führte zu seinem Vortrag ein Video einer Performance vor, in der er in Mexiko einen Eisblock so lange durch die Straßen schob, bis nur ein kleiner Puck übrig blieb. Garcia Torres‘ Vortrag war performativer Art: Zwei Sprecher/Übersetzer überlagern mit ihren Reden so sehr seinen Vortrag, dass nur einzelne Worte verständlich bleiben. Am Ende wird klar, dass es Torres um Afghanistan, Kabul und Boettis One Hotel geht.
Mario Garcia Torres umkreist gern das Werk anderer Künstler und macht dadurch spielerisch bewusst, wie Vermittlung funktioniert und wie Wissen und Geschichten weitergegeben werden. So hat er sich schon vor Jahren mit Boettis Kunst, insbesondere mit dessen Briefbotschaften, auseinandergesetzt und die Briefaktionen fortgesetzt, indem er reale Botschaften über die Zustände in Afghanistan als Faxe fiktiv an Boetti schickte.
Der Künstler begab sich in Kabul auf die Suche nach Boettis One Hotel, von dem man annahm, dass es zerbombt worden sei. Carolyn Christov-Bakargiev erklärte nun in ihrem Vortrag, dass der Bericht über die Zerstörung des Hotels nicht zutreffe. Das einstige Hotel bestehe als Wohnhaus fort.
CCBs Vortrag war vornehmlich ein Gang durch die Geschichte der documenta, wobei (aus Zeitgründen?) Enwezors Documenta11 nicht vorkam. Beim Blick auf die documenta 5 stellte sie die Beziehung zu Boetti und Kabul her: Denn Boetti sei genau in dem Jahr (1971) zur documenta 5 eingeladen worden, in dem er zum ersten Mal in Kabul weilte und dort seine ersten Weltkartenteppiche in Auftrag gab. Boetti hat demnach ein Doppelleben geführt – in Europa wußte man nichts über seine Afghanistan-Aufenhalte, und in Kabul ahnte man nichts von seiner Künstlerischen Arbeit in Italien.
In ihrem Vortrag würdigte CCB Arnold Bodes inszenatorische Leistung bei der ersten documenta und seine Entdeckung des white cube. Sie erläuterte die Entstehung der documenta im zerstörten Kassel und die ideologische Ausrichtung, die Abstraktion als die Kunst der Freiheit zu verstehen. Als herausragende Künstler in der documenta-Geschichte stellte sie Jackson Pollock (documenta II und III), Colombo und Christo (documenta 4), Joseph Beuys und die arte povera (documenta 5), Walter de Maria (documenta 6) und Beuys‘ „7000 Eichen“ (documenta 7) vor. Von der documenta 12 schlug CCB wieder einen Bogen nach Afghanistan: Das rote Mohnfeld auf dem Friedrichsplatz habe den Bezug zu dem Land hergestellt, in dem der Mohn eine umstrittene Wirtschaftsgrundlage ist.
Für CCB ist die documenta mehr als eine Ausstellung – ein „cultural event“. Bei der Vorstellung der documenta X machte CCB ihren afghanischen Zuhörern klar, dass auch in Europa die Rolle der Frau nicht schon immer selbstverständlich gleichberechtigt gewesen sei: Die Berufung von Catherine David zur ersten documenta-Leiterin sei Mitte der 90er-Jahre schon mehr als aufsehenerregend gewesen.
8. 9. 2010