Ein Brief an einen Freund

In der Pressemappe, die am 29. Oktober bei der ersten großen Pressekonferenz der documenta-Leiterin verteilt wurde, liegt ein Brief, den Carolyn Christov-Bakargiev unter dem Datum des 25. Oktober an einen Freund geschrieben hat. Dieser Freund ist, wie sie am Ende des 15-seitigen Briefes zugibt, ihr anderes Selbst, ihr Gegenüber, dem sie sich mitteilt, um in ihren Gedanken mehr Klarheit zu gewinnen.
Ein Brief an einen Freund? Einen solchen fiktiven Brief, zwar nicht an einen Freund, aber an einen Künstler, hatte auch schon Rudi Fuchs zur Vorbereitung seiner documenta 7 geschrieben. Zur Pressekonferenz im September 1981 stellte er ihn vor. Da waren es bis zur Eröffnung der Ausstellung noch neun Monate. Fuchs verärgerte damals etliche Kritiker, weil er sich in poetischen Überlegungen ausließ und nur wenig Konkretes zur documenta 7 sagte. (In der Rückschau stellt sich das anders dar: Der Brief enthält überraschend viele detaillierte Hinweise auf die damalige Ausstellung.)
Und nun, 29 Jahre später, wieder ein solcher Brief. Mit literarischem Ehrgeiz geschrieben und voller offener und versteckter Anspielungen auf die kommende Ausstellung. Die Seelenverwandtschaft ist unverkennbar. Sicherlich ist es auch kein Zufall, dass Fuchs als Direktor des Castello di Rivoli Carolyn Christov-Bakargiev vorausging.
Auch einzelne Gedankenstränge ähneln sich, selbst wenn man bedenkt, dass sich die Voraussetzungen total gewandelt haben. Fuchs konnte damals die Kunst Afrikas, Asiens, Osteuropas und Lateinamerikas noch nahezu komplett ausblenden und die Malerei ins Zentrum stellen. Er rief zur Rückkehr ins Museum. Carolyn Christov-Bakargiev hingegen propagiert die Öffnung – zur Stadt, zur Region und zur Landschaft. Dabei sind die Folgen der Globalisierung für sie schon eine stillschweigende Voraussetzung. Und die Öffnung der Kunst zu medialen Formen der Gesellschaft und Wissenschaft ist soweit gediehen, dass sich für die documenta-Leiterin, wie sie in dem Brief darlegt, schon die Frage stellt, ob die Kunst im 21. Jahrhundert noch das bleibe, als was sie bisher galt.
CCB liebt es, mit dem erwartungsvollen Publikum zu spielen. In ihrem Brief erzählt sie von unzähligen Begegnungen mit Künstlern, Autoren, Denkern und Kuratoren. Indem sie aber nur die Vornamen nennt, lädt sie zum Ratespiel darüber ein, wer denn nun gemeint sei. Einige Künstler kann man ohne große Mühe herausfiltern, andere bleiben für die Außenstehenden rätselhaft.
Während Rudi Fuchs in seinem Brief die zu realisierende Ausstellung umkreiste, setzt sich CCB mit den kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Kunst auseinander. Auch an die denkt Fuchs – aber eher nur im Vorübergehen. Er entwirft in dem Brief das Konzept eines Künstlerbuches – mit Texten von Enzensberger, Pasolini, Barthes, Beckett, Pound, Hölderlin, Rimbaud, Strindberg, Robert Walser, Beckmann, Giacometti, Strindberg und vielen anderen. Die Vorstellung bleibt weitgehend ein Traum. Nur einige wenige Texte finden Eingang in den ersten Band des documenta-Kataloges.
Doch vom Ansatz her ist das ein erster Schritt zu dem, was Catherine David 1997 in ihrem Katalog und in der Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ realisierte und was nun Carolyn Christov-Bakargiev mit ihrer Buchreihe „100 Notes – 100 Thoughts“ vorhat, die ab 2011 erscheinen sollen. Alle drei sind damit sehr nahe bei Arnold Bodes Ursprungsidee, der die erste documenta als eine kulturelle Manifestation im Sinn hatte – allerdings nicht mit Vorträgen oder Büchern, sondern mit praktizierter Kunst wie Theater, Film, Literatur, Musik und Architektur.

15. 11. 2010

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