Verlorene Form

Wie geht man mit der Vergangenheit um? Kann und darf man eine Brunnenplastik, die ein Jude stiftete und die deshalb von den Nazis zerstört wurde, so wieder errichten, als sei nichts geschehen? Oder läßt sich eine solche Brunnenplastik zum Mahnmal umformen?

In der documenta-Stadt Kassel wurde ein denkwürdiger Weg aus diesem Dilemma gefunden. Gewiesen hat ihn der Künstler Horst Hoheisel (Jahrgang 1944), der die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu seiner eigenen Sache machte. Konkret geht es um den Brunnen vor dem Kasseler Rathaus, der 1908 von dem jüdischen Fabrikanten Sigmund Aschrott gestiftet worden war:

Ein Brunnenbecken, aus dem ein von vier Pyramidensäulen umstandener zwölf Meter hoher Obelisk herausragte. Ein reine „architektonische Spielerei‘ des Architekten Karl Roth. Die Nationalsozialisten zerstörten 1939 diese Brunnenplastik, ließen die Umfassung aber stehen.

Nach einer wenig fruchtbaren Diskussion über die Neugestaltung des Aschrott-Brunnens schlug Hoheisel vor, den Aufbau zwar zu rekonstruieren, ihn aber als verlorene Form bewußt zu machen: Der als hohle Beton- form neugegossene Obelisk wird spiegelverkehrt in den Boden versenkt – „als Vertiefung in die eigene Geschichte“. Aus der Pyramide wird ein Trichter, in den Wasser hineinläuft. Die Negativform soll durch eine Panzerglasscheibe begehbar und einsehbar werden.
Gestern wurde ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Errichtung dieses Mahnmals gegen Zerstörung und Verfolgung getan: Die zwölf Meter hohe und 30 Tonnen schwere Brunnenplastik aus Beton wurde vor dem Rathaus aufgestellt, wo sie für 14 Tage als Positivform zu sehen ist, bis sie in dem davor entstandenen Trichter versenkt und damit als Bild der Vergangenheit vollendet wird.

Ohne Zweifel ein schwieriges Werk, weil die sinnliche Anschauung nur für wenige Tage gegeben ist und sich seine Wahrnehmung danach nur über den Kopf vollzieht. Und doch ist dies ein beispielhafter Versuch, einen schnell verdrängten Vorgang aus der Geschichte an einem Punkt greifbar werden zu lassen, gebaute Form und deren Zerstörung in einem Stück sichtbar werden zu lassen. Diese „verlorene Form“ reicht in ganz andere Tiefen als der von de Maria in Kassel versenkte Erdkilometer.

HNA 28. 8. 1987

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