Kunst als Fiktion

In der documenta 5 wird es eine Abteilung „Eingangssituation“ geben, in der Künstler vertreten sind, die das Museum zum Gegenstand ihrer Arbeit gemacht
haben. Einer der Künstler ist der Belgier Marcel Broodtheers, von dem bis zum 9. Juli eine experimentelle Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle
zu besichtigen ist: Der Adler vom Oligozän bis heute. Als Veranstalter wird ein Museum der modernen Kunst, Abteilung Adler, angegeben, ein Museum,
das es nicht gibt und das doch wiederum durch diese Ausstellung existiert. Ironie, Parodie, Fiktion und Umkehrung des Kunstverständnisses paaren sich.
Nehmen wir erst einmal das Vordergründige, das, was der Besucher vorfindet: Die Ausstellung gleicht einem Kuriositätenkabinett, in dem alle Objekte, Produkte und Abbildungen versammelt sind, die den symbolisch und historisch vorbelasteten Adler zum Motiv haben. Der Adler als kaiserliches Wappentier, der Adler auf NS-Briefmarken, der Adler als Gütesiegel deutscher Markenbutter, der Adler im allegorischen Gemälde.
Der nach „echter Kunst“ Ausschau haltende Betrachter wird durch die neben jedem Ausstellungsstück liegenden Schildchen „Dies ist kein Kunstwerk“ erst einmal irritiert. Doch in dem Augenblick, in dem man eine solche Kennzeichnung auch neben einem als Kunstwerk geschaffenen Objekt oder Gemälde (beispielsweise das Ölgemälde „Adler“ von Gerhard Richter) platziert findet, wird man auf den Gedankengang aufmerksam, der Broodthears zu der Ausstellung veranlaßt hat. Die Herauslösung eines Objekts aus seinem Bereich, seine Vorstellung im musealen Raum und damit die Verdeutlichung der Idee, wie willkürlich es ist, etwas als Kunstwerk zu setzen oder nicht.

Broodthears knüpft bewusst an Marcel Duchamp (der 1917 ein Urinoir als Kunstwerk ausstellte) und an René Magritte (der 1929 unter die Abbildung einer Pfeife schrieb: „Dies ist keine Pfeife“). Es ist die Setzung des Gewohnten als Ungewohntes, der Gedanke, dass eine Idee einen Gegenstand als etwas anderes erscheinen lassen kann, ohne daß eine reale Veränderung vorgenommen worden ist. Broodthears kehrt die Umkehrung Duchamps noch ein weiteres Mal um.

Aber Broodthears wollte nicht nur den Gegenstand, exemplarisch verdeutlicht am Adler,
sondern auch das Museum zur Disposition stellen. Sein Museum der modernen Kunst, zu Hause in vier Wänden mit Hilfe von Postkarten und anderen
Bildchen aufgezogen, ist als Fiktion und Parodie gedacht. Das ist im Katalog konsequent durchgehalten, der eine halb vorgetäuschte, halb parodistische Enzyklopädie über den Adler enthält. Die Düsseldorfer Ausstellung selbst aber, angereichert durch zahlreiche Leihgaben anderer Museen, ist keine Fiktion mehr, sie ist schon wieder Realität, eben eine Ansammlung von Kuriositäten zum Adler.

HNA 8. 6. 1972

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