Körper – Zeit – Raum

Zur Ausstellung von Siegfried Gerstgrasser in der Adventskirche

Siegfried Gerstgrasser ist ein Künstler, der sich mit seiner Arbeit zwischen freier Gestaltung und künstlerischem Design bewegt. In der Ausstellung, die wir heute eröffnen, stehen die freien Kunstwerke im Mittelpunkt, Arbeiten, die zur Auseinandersetzung mit dem Raum und der Form herausfordern und die inhaltlich berühren.

Seit 16 Jahren sind Siegfried Gerstgrasser und die Adventskirche durch ein Werk verbunden, das hingegen in erster Linie funktional bestimmt ist, – durch das Taufbecken. Als halbrunde Holzschale erfüllt das Taufbecken den Zweck, den es hat, nämlich das Wasser aufzunehmen, mit dem die Kinder getauft und die Gemeinde aufgenommen werden. In seiner zeitlosen Schlichtheit und Schönheit gewinnt es aber auch eine eigenständige künstlerische Qualität. Es schwebt über dem Boden und bekommt dadurch eine große Leichtigkeit. Seinen ganz eigenen Charakter jedoch offenbart sich erst dann, wenn man wie die engere Taufgemeinde rund um das Taufbecken steht und auf den breiten hölzernen Rand blicken kann. Dann erkennt man, wie im Holz die Sprache des Lebens sichtbar wird. Es gehört nämlich zur Eigenart von Siegfried Gerstgrassers Werk, dass die Objekte und Bilder ihre Form und Ausdruckskraft aus der Struktur der Jahresringe beziehen.

Gerstgrasser wird selbst gleich ein paar Worte zu den Jahresringen sagen. Nur soviel möchte ich vorausschicken: Siegfried Gerstgrasser arbeitet zwar seit 35 Jahren als Gestalter von Objekten, Skulpturen und Bildern, die sich mit der Sprache des Holzes auseinandersetzen, doch er ist kein Holzbildhauer. Die meisten Holzschnitzer und –bildhauer begreifen den Holzblock, aus dem sie ihre Form herausholen wollen, als ein Material, mit dem man beliebig und kraftvoll umgehen kann. Gerstgrasser hingegen ist an den Lebensspuren, die das Holz in sich trägt, ebenso interessiert wie an der äußeren Form. Auch er greift ein, zerlegt Stämme, sägt und fügt die kleinen Elemente neu zusammen. Doch die Leitlinie, an der er sich entlang arbeitet, geben die Jahreslinien im Holz vor. Diese innere Struktur bringt Gerstgrasser zum Sprechen.

Die Oberflächen gewinnen dadurch eine eigene Kraft und Dynamik. In der großen Form des Objekts entstehen so viele kleine Formen, die eigenen Gesetzen folgen und die von dem Künstler oftmals in die Symmetrie gezwungen werden. Deshalb gilt grundsätzlich, dass man als Betrachter erst dann die Bilder und Objekte Gerstgrassers richtig würdigen kann, wenn man nahe vor sie tritt und die Oberflächenstrukturen studiert. Aus der Nähe versteht man dann auch, dass die freigelegten natürlichen Strukturen in eine neue künstliche Ordnung gebracht werden.

Der aus Meran stammende Künstler und Gestalter wurde zuerst zum Tischler ausgebildet, bevor er in Stuttgart und dann in Kassel Kunstschulen besuchte. Sein handwerklicher Zugang zur Kunst wirkt aus heutiger Sicht altmodisch, ist aber ein Garant für Fertigkeit und Qualität. Mit seinen Arbeiten macht er bewusst, dass nicht umsonst der Baum mit zahlreichen Schöpfungsmythen verbunden wurde. Schließlich war es auch der Baum der Erkenntnis der jenen Konflikt heraufbeschwor, der zur Vertreibung aus dem Paradies führte.

Da Siegfried Gerstgrasser uns dazu verführt, die Lebenslinien des Holzes zu lesen, lag es nahe, dass er aus Holz auch Lesebücher schuf, in denen statt altertümlicher Runen Jahresringe und deren Bruchstücke zu sehen sind. Auf der anderen Seite lernen wir auch, dass sich mit dem Ort ganz unmittelbar der Deutungshorizont verändert: Die beiden Tafeln mit den Rundungen an ihren oberen Enden, die im Altarraum an die Wand gelehnt sind, sehen wir im kirchlichen Bezug automatisch als die Gesetzestafeln von Moses.

Holz empfinden wir als ein Material, das warme Farben besitzt. Doch die Farben können stark variieren, wenn sie nachdunkeln oder ausbleichen. In den 90er-Jahren ging Gerstgrasser vermehrt dazu über, die Lineaturen seiner Holzobjekte einzufärben, um die Sprache noch schärfer zu akzentuieren und um noch eine weitere Ausdrucksmöglichkeit zu eröffnen. Im Extremfall führt das zu Verwandlungen wie bei den ovalen und gerundenten weißen Holzobjekten, die auf dem Boden in der Eingangszone ein Ensemble bilden. „Woodstones“ heißen die Objekte nicht zu Unrecht, denn sie gleichen massiven Steinen.

Unvorbereitete Besucher werden verführt, die Reihe der lebhaften Streifenbilder, das Farbbild, das an der Wand der Empore hängt, sowie die beiden Bilder im Altarraum als Elemente konstruktiver Malerei zu sehen. Im strengen Sinne handelt es sich nicht um Malerei. Vielmehr akzentuieren die farbigen Streifen und rechteckigen Felder die Sprache des Holzes, die darunter liegt und durch die Farbe hindurchscheint.

Gleichwohl stellen wir fest, dass diese Bildergruppe mit ihrer intensiven Farbigkeit in der Adventskirche einen hervorragenden Entfaltungsraum findet und dass sich ein spannungsreicher Dialog zwischen den Kirchenfenstern und den Bildern entfaltet. Schon gibt es Menschen, die sich vorstellen können, diese Bilder über die Ausstellung hinaus in der Kirche zu halten.

Obelisk und Säule, Pyramide und Tafel, Buch und Bild – immer wieder kehrt Gerstgrasser zu den Grundformen der Gestaltung zurück. Das zeitlos Schöne wird da ebenso sichtbar wie gelegentlich die mythische oder religiöse Form. Dahinter steht immer auch die Frage nach dem Bild und Wesen des Menschen – in Bezug auf die Welt. Beispielhaft dafür ist die Arbeit, die im Zentrum steht, unmittelbar vor dem Altar. Eine graphitfarbene Säule mit einer roten pyramidalen Spitze richtet sich in die Höhe, während unmittelbar darüber eine gekappte Säule mit einer gleichen roten Spitze hängt. Zwei Kräfte wirken direkt gegeneinander. Eine Spannung entsteht, ein möglicher Konflikt. Man kann es auch anders sehen – ganz im Sinne von Michelangelos Erschaffung des Adam – also als Schöpfungsbild. Dafür spricht, dass die durch die Säule gesteckten Röhren die Silhouette eines Menschen ergeben. Er ist das Ergebnis der Schöpfung. „Mensch und Kosmos“ heißt dementsprechend die Arbeit.

Geburt und Tod. Beide Enden des Lebens berührt Gerstgrasser in seinem Werk. Das „Haus der Toten“, der auf dem Boden stehende, nach oben offene Sarkophag fängt die Widersprüchlichkeit ein, die mit diesem Bild verbunden ist. Der Mensch ist das zentrale Thema dieser Arbeit, aber er hat sich unseren Blicken entzogen. Geblieben ist die Hohlform, die auf die Umrisse des menschlichen Körpers zugeschnitten ist. So ergibt sich eine unmittelbare Präsenz, obwohl der Körper verschwunden ist. Andererseits öffnet sich der Sarkophag, und die spiegelnde Ölschicht, die den Boden bedeckt, zeigt die Weite, die sich über ihm öffnet. Erde und Himmel verbinden in der Arbeit. Insofern ist das „Haus der Toten“ ein direktes Gegenstück zu „Mensch und Kosmos“.

Zwischen Geburt und Tod liegt das Leben. Doch dieses Leben ist nicht immer geradlinig und harmonisch. Häufig gibt es Konflikte, manchmal Brüche. Auch dafür hat Siegfried Gerstgrasser Formen gefunden. Schwarz eingefärbte Holzarbeiten stehen für die Nachtseite des Lebens. Das Relief eines Menschenbildes und eine auf dem Boden liegende amorphe Form sind zerbrochen. Die Brüche sind nicht nur dargestellt, sondern wirklich vollzogen und damit endgültig geworden. Hier gewinnt die Form eine existenzielle Dimension.

2010

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