Die Rückseiten der Bilder

Mar Vicente: Dimensionen der Malerei, Kasseler Kunstverein, 2.-29. Mai 2011

1988 hatte Veit Loers aus St. Gallen die Ausstellung „Rot Gelb Blau“ in die von ihm geleitete Kunsthalle Fridericianum in Kassel übernommen, die eine vorzügliche Übersicht über die Malerei mit den drei Grundfarben seit dem Beginn der Moderne bot. Der die Ausstellung begleitende Katalog zitierte unter anderem Alexander Rodtschenko, der 1939 rückblickend auf die frühen 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts gesagt hatte: „Ich habe die Malerei zu ihrem logischen Ende gebracht und habe drei Bilder ausgestellt: ein rotes, ein blaues und ein gelbes, und dies mit der Feststellung: Alles ist zu Ende. Es sind die Grundfarben. Jede Fläche ist eine Fläche, und es soll keine Darstellung mehr geben. Jede Fläche hat bis an ihre Grenzen eine einzige Farbe!“
Mit dieser Ausstellung, die unter anderem Werke von Leger, Severini, Mondrian und Richter enthielt, war über die Beschränkung auf das Neben- und Miteinander der drei Farben eigentlich alles gesagt. Aber die Malerei war längst nicht an ihrem Ende. Denn gleichzeitig veranschaulichte die Ausstellung, dass die Möglichkeiten bei der Konzentration auf die drei Farben längst nicht erschöpft waren. Mit der Ausstellung „Dimensionen der Malerei“ der in Österreich lebenden Spanierin Mar Vicente liefert der Kasseler Kunstverein dafür einen weiteren Beweis. Die Malerin hat allerdings den drei Grundfarben gelegentlich das Grün hinzugesellt.
Vor allem in dem großen Saal des Kunstvereins (im Fridericianum) schaffen die von der Decke hängenden großen Bildfahnen, die Mar Vicenta gleichmäßig mit roter, gelber oder blauer Farbe überzogen hat, eine heitere, fast beschwingte Atmosphäre. Die Besucher wandern durch einen leuchtenden Farbenwald, in dem sich rasch wechselnde Farbüberschneidungen ergeben. Die Farben prägen den Raum, sie bewegen sich und scheinen zu fließen. An einigen Stellen springen die Farben auf Wandsegmente oder Fensternischen über.
Diese Installation saugt die Besucher auf, doch scheint sich vieles im Spielerischen zu erschöpfen. Das weiß offenbar die Malerin. Also experimentiert sie systematisch mit der Staffelung der Farben. Der für ihre Arbeit wichtigste Schritt besteht darin, dass sie nicht auf die Totalität der Farben setzt: Immer wieder kontrastiert sie die neben einander gesetzten Farben mit Weiß. Denn erst durch das Licht schaffende und neutralisierende Weiß entsteht der Umraum, der die Farben zur Entfaltung bringt. So bewegt man sich zuweilen auf eine weiße (nichtssagende) Bildfahne zu, um dann erst mit der Wahrnehmung der Rückseite in die Farbe einzutauchen.
Mar Vicente hat aus diesem Wechselspiel ihre ureigene Bildsprache entwickelt. Am deutlichsten wird das an der Stirnwand, vor der in dichter Staffelung drei Bildfahnen hängen. Man geht auf die ausdruckslos wirkenden Leinwände zu, um dann, wenn man von der Seite schräg auf sie schaut, festzustellen, dass die Rückseiten eingefärbt sind und diese Farbseiten auf ihre weiße Umgebung abstrahlen. Dabei wird die Kraft der Farben gefiltert. Es entstehen Zonen, in denen sich die Farben dem Zugriff zu entziehen versuchen. Aus den knallig bunten, deckenden Farben werden durchsichtige Pastelltöne.
In ganzen Werkreihen hat Mar Vicente diese Wirkungsweisen an Bildern und Bildobjekten durchgespielt. Sie ist dabei zu äußerst spannenden Ergebnissen gelangt. So sieht man ein reliefartiges Bild, das als ein Quadrat angelegt ist und dessen vier rechteckige Bauelemente im Innern nochmals ein Quadrat ergeben. Man blickt auf einen weißen Bildkörper, an dessen inneren und äußeren Rändern aber Farbstreifen (rot, gelb, blau und grün) leuchten, da die Kantenseiten jeweils eingefärbt sind. Die Farben werden von der Oberfläche weggedrängt, srtzen sich an den Rändern und Kanten aber wieder durch.
Man lernt in der Ausstellung viel über die Strahlkraft und die Wirkung der Farben. Die Palette scheint sich zu erweitern, durch das Zusammenspiel kommen neue Farbklänge hinzu. Wo Rot, Gelb, Blau und Grün unter sich bleiben, ergeben sich klare Abgrenzungen. Dort aber, wo farbige Streifen und Flächen mit weißen Untergründen konfrontiert werden, weichen die Grenzen auf und erweitern die Farben ihren Wirkungsraum. Das gilt vor allem für die Bildobjekte, deren Oberflächen weiß sind, deren Innen- und Außen-Kanten aber mindestens mit einer der Farben bemalt sind.
Ihren Höhepunkt erreicht diese Kunst in zwei nebeneinander platzierten Bildobjekten. In zwei weißen, rechtwinkligen Kästen sieht man je einen rechteckigen Farbblock. Der eine ist oben rot und an der Seite grün bemalt, der andere oben blau und an der Seite rot. Es ist faszinierend zu sehen, wie die Farben von den Kanten abstrahlen und wie vor allem die rote Kante den gesamten Bildkasten einfärbt.
Das, was Mar Vicente gestaltet, ist zwar Malerei. Doch im Ergebnis wird daraus Raumkunst. Ihre Technik und ihre Botschaft gewinnen nur dort wirklich Durchschlagskraft, wo die Malerin nicht nur die eine Seite der Leinwand oder die bloße Fläche bearbeitet, sondern mit dem Relief oder dem Objekt beziehungsweise mit dem frei im Raum hängenden Malgrund arbeitet. Die Farben selbst leben aus dem effektvollen Kontrast.
Unter den kleineren Wandobjekten gibt es einige Ausnahmen. Da sind etwa die pyramidalen Bildobjekte, die eine in sich stimmige Harmonie erreichen, weil die vier gleichen, nach oben spitz zulaufenden Flächen durch die Farbfolge Gelb – Blau – Grün – Rot eine zeitlose Klarheit gewinnen.
Die Farben verändern auch die Räume. Am deutlichsten wird das in der einen Fensternische, in der der Rundbogen zur Hälfte rot und zur anderen Hälfte grün ausgemalt ist. Der Farbbogen erscheint wie eine Wulst, die sich in den Raum drückt.

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