Was ist denn nun Realismus?

Die dem Realismus verpflichteten Künstler haben sich selbst organisiert und bieten in Ber1in
erstmals einen umfassenden Überblick über die aktuelle Realismus-Szene in Deutschland.

„Nun wollen die Realisten nicht länger am Katzentisch sitzen, sondern als legitimer Teil der Moderne begriffen werden..“ Mit diesem Satz umreißt Manfred Bluth, Berliner Maler und lange Zeit Professor Kunsthochschule Kassel, die Zielvorgabe, mit der 1990 der „Künstlersonderbund in Deutschland“ gegründet wurde und jetzt die erste Realismus-Triennale im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wird. Mit Entschiedenheit wehren sieh die Künstler, die sich dem abbildenden Charakter der Kunst verschrieben haben, gegen die Vorstellung, realistische Kunst sei eine Sache der Vergangenheit und komme heute höchstens noch als Ausdruck einer ironischen Grundhaltung oder als extreme Randerscheinung vor.

Tatsächlich sind die realistisch arbeitenden Künstler zu Außenseitern geworden. Auch dört, wo ihre malerische oder bildhauerische Qualität unstrittig ist, haben sie es schwer, rnarktführende Galerien für sich zu gewinnen oder in die
repräsentativen Ausstellungen Eingang zu finden. Der Mißbrauch des Realismus zu politisch-propagandistischen Zwecken im Nationalsozialismus und Sozialismus – hat zu dieser Ausgrenzung ebenso beigetragen wie das Selbstverständnis der Moderne.

Nun zeigt die. Berliner Ausstellung ein Doppeltes: Die Realisten selbst haben sich gen nicht isoliert, sondern, die von der Kunst in diesem Jahrhundert angebotenen Ansätze aufgenommen und fortgeführt. Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus und auch die nichtgegenständliche Kunst

sind nicht ohne Einfluß geblieben. Stilistisch haben die Realisten also nicht eine Position festgeschrieben, sondern sich weiterentwickelt. Inhaltlich präsentieren sie sich zudem als eindrucksvolle Zeugen und Interpreten einer Zeit, die von Vereinsamung, Entleerung, Massenhaftigkeit und Endzeitstimmung geprägt ist. Unter. den 360 Werken der 120 Künstler kann man die Arbeiten an den Fingern abzählen, die eine stille, beschauliche Welt beschwören. Die thematische Gruppierung und dichte Hängung der Werke läßt einige Räume wahrlich zu Schreckenskammern werden.

Es ist eine wichtige und notwendige Ausstellung, in der es eine Fülle zu entdecken gibt und in der man lernt, daß der Realismus-Begriff für eine ungeheure Vielfalt steht. Auch im Zeitalter von Fotografie und Video hat der traditionelle Weg der künstlerischen Abbildung eine Zukunft, eben weil die Künstler das Bild der Wirklichkeit in Werken pointieren ünd somit über die bloße Übertragung hinausgehen. Gleichwohl ist kaum zu erwarten, daß von der Ausstellung ein Impuls ausgeht, der zur Neuverteilung der Gewichte in der Kunstlandschaft beitragen könnte; schließlich werden hier Positionen eingenommen, die insgesamt schon bestens bekannt sind.
Natürlich ist der in Berlin gebotene Überblick nicht vollständig. Aus dem Westen Deutschlands fehlen Künstler wie Horst Janssen, Norbert Tadeusz, Rolf Escher oder Verena Vniurift; und mit Willi Sitte, Werner Tübke, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer ist. die Führungsriege der früheren DDR-Kunst nicht vertreten. Der Grund: Voraussetzung für die Teilnahme an dieser ersten Triennale ist dae Mitgliedschaft im Künstlersonderbund, und in diesen wurde nicht jeder, der wollte, aufgenommen, andererseits wollten sich nicht alle Angesprochenen einem Verband anschließen. Bei den einstigen DDR-Spitzenkünstlern gab es zudem Berühnmgsängste und verletzte Eitelkeiten.

Trotzdem ist die Ausstellung für das Verhältnis von Ost- und Westkunst wegweisend: Nahtlos fügen sich die ostdeutschen Künstler wie Harald Metzkes, Wolfgang Peuker oder Doris Ziegler in das West-Panorama ein. Sie sind in ihrer Bildsprache genauso individuell und ernüchternd wie ihre westdeutschen Kollegen.
Endzeitstimmung herrscht im Gropius-Bau: Die Welt, die wir durch die dort gezeigten Bildwerke kennenlernen, ist kalt, entfremdet, bedrohlich, zerstört oder überdreht. So durchgängig diese Sichtweise ist, so radikal verschieden arbeiten die Künstler. Jan: Peter Tripp etwa erweist sich erneut als der absolute Meister realistischer Malerei: Die Tonstufen eines Farbbandes -in seinem Bild einer Schreibmaschine („A :Wie Anna“) könnten von einem Foto nicht so genau dokumentiert werden. Doch Tripp ist zugleich ein Maler, der wie Konrad Klapheck mit seiner Malerei mehr als das Ding meint, das er malt. Bedrückend und faszinierend sind die Altbauschluchten, die der Ostberliner Konrad Knebel einfängt; die Trostlosigkeit der Straßenszenen steigert sich hier noch. Johannes Grützke und Leszek M. Zegalski hingegen nutzen die realistischen Mittel als Versatz- stücke, um groteske Szenarien zu gestalten. Bei Roland Heimus und Klaus Fußmann schließlich löst sich der feste realistische Zugriff aufs Motiv auf; bei beiden überlagert das Spiel mit der Malerei die inhaltliche Darstellung.

Spätestens bei diesen Bildern stellt sich die Frage, was denn nun eigentlich unter Realismus zu verstehen sei. Wenn sich die Definition ausschließlich auf die Wiederkehr von Figur und Gegenstand stützt, dann kann man guten Gewissens auch die Maler um Baselitz und Hödicke oder Einzelgänger wie Antes als Realisten bezeichnen. Andererseits muß man sehen, daß der Wirklichkeitsbegriff in der Kunst nicht erst seit Beuys erweitert ist. Dorothee von Windheims Abdrücke von Putzschichten ergeben ebenso realistische Bilder wie ein abstraktes Gemälde, das die Farbtönung eines Waldstreifens zu einer bestimmten Tageszeit einfängt.

Realismus, das lehrt die Ausstellung, wird in Berlin als künstlerische Haltung propagiert. Das gibt ihr Kraft, darin liegt aber auch ihre Schwäche und Angreifbarkeit.

HNA 9. 2. 1993

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