Soll ich dem Volk aufs Maul schauen und etwas Volkstümliches verfertigen? Nein, da schau ich lieber durch mein Maul in mich selber tief hinein, denn ich bin das Volk. Das schrieb der Berliner Johannes Grützke in sein Skizzenbuch, als er mit der gedanklichen Vorbereitung seines Wandbildes Zug der Volksvertreter für die Frankfurter Paulskirche beschäftigt war. Dieses In- Sich-Hineinschauen, um die menschlichen Abgründe, die alltäglichen Absonderlichkeiten und die fleischliche Lust in den Bildern plastisch sichtbar zu machen, zeichnet die Kunst von Grützke seit jeher aus.
Beim Komponieren und Umsetzen seines l4teiligen, drei Meter hohen und 32 Meter langen Rundbildes für die Paulskirche ermöglichte ihm diese Art der Weltschau die erforderliche Distanz. Die Figuren, die sich als Volksvertreter 1848 auf den Weg in die Deutsche Nationalversammlung machen, werden so nicht zu pathetischen Helden, sondern bleiben sich gegenseitig schubsende Menschen mit allen denkbaren Schwächen.
Johannes Grützke ist ein Künstler, der sich nicht bloß der figürlichen Bildsprache bedient, sondern der für die Sache des Realismus kämpft. Da-
her gehört er zu den führenden Köpfen des Künstlersonderbundes, der 1992 eine eigenständige Ausstellungsreihe begründete, die 1999 auch nach Kassel in die documenta-Halle kommen soll. Aber mit dem Titel eines kritischen Realisten ist Grützke nicht zu fassen. Seine Bilder sind meist bissig und bewegen sich oft am Rande der Karikatur.
Heute wird Grützke 60 Jahre alt. Aus diesem Anlaß zeigt bis 16. November das Ludwig Forum in Aachen von ihm 90 Gemälde, Pastelle und Grafiken unter dem Titel Theater der Menschheit.
30.9. 1997