Farbe überlagert Form

Johannes Grützke, kritisch realistischer Maler aus Berlin, ist innerhalb kurzer Zeit zum wiederholten Mal im Kasseler Raum zu Gast. Nachdem er im März die Bühnenprospekte zur „Romeo und Julia“-Inszenierung am Staatstheater geliefert hatte, zeigt er nun Handzeichnungen und Pastelle in der von seinem Künstlerfreund H.D. Tylle geführten Realismusgalene in Fuldatal-Ihringshausen (Auf dem Hasenstock la). Die Eröffnung der bis zum 18. Juni laufenden Ausstellung wurde zum Familientreffen der realistischen Maler: Manfred Bluth, Berliner Weggenosse Grützkes und Kasseler Kunstprofessor, war ebenso da wie Willi Sitte, der langjährige Präsident des Verbandes bildender Künstler in der DDR.

Grützke beglückte das große Publikum mit der Lesung seiner Rede „An die Freunde der Nationalgalerie“, in der er sich, ganz und gar Schelm, mit der
Tarnung der Kunst, der Kunstfreunde und Künstler beschäftigte und besorgt fragte, was denn sei, wenn sich unter der Tarnung nichts verberge. Seine sprachlich ausgefeilte Ironisierung des Kunstbetriebs trug er, auf einem Tisch stehend, mit demselben spitzbübischen Lächeln vor, mit dem er auch über seine Bilder spricht, sofern er von ihnen erzählt.

Wie wenig zutreffend der Begriff „kritischer Realismus“ für Grützkes heutiges Schaffen ist, dokumentiert diese Ausstellung. Natürlich bildet die reale Form den Ausgangspunkt. Hier umreißt Grützke mit wenigen Bleistiftlinien ein Kindergesicht, dort läßt er einen Schafskopf greifbar werden. Es sind Natur-
studien, Fingerübungen eines Porträtisten.

In dem Moment aber, in dem Grützke zur Pastellkreide greift und auf Packpapier seine Kompositionen aufbaut, ist die realistische Formensprache nur noch Material. Nach Belieben wachsen die Bilder ins Überwirkliche, ins Groteske oder gar ins Nur-Malerische. Die kräftigen, zuweilen schreienden Farben, die in dynamischen Linien aufgetragen (aufgerieben) wurden, überlagern manchmal so stark die figürlichen Elemente, daß ein nahezu abstraktes Bild wie „Bunte Wand“ geradezu logisch erscheint.

Johannes Grützke vermag es, extreme Gefühls- und Leidenssituationen in den Gesichtern und Körpern zu spiegeln. In diesen Pastellen verlagert sich aber die Ausdruckskraft von der Form in die Farbe. Eine spannende Entwicklung, eine sehenswerte Ausstellung.

11. 5. 1989

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