Der Blick weitet sich

Was vor acht Jahren als ein Anhängsel an die internationale Kunstschau in Venedig begann, ist in diesem Jahr zum festen Bestandteil, ja, zum Kernstück der Biennale geworden. Die Abteilung, die unter dem Titel „Aperto“ jüngere Künstler vorstellt, die von einer internationalen Jury für zukunftsweisend gehalten werden. Mit 86 Künstlern aus 25 Ländern hat diese Ausstellung nicht nur eine Größenordnung erreicht, die alle ihre Vorgängerinnen in den Schatten stellt, sie hat auch mit der herrlichen, riesigen Halle des Arsenale aus dem 16. Jahrhundert einen Raum endgültig für sich erobert, der die Parkpavillons in den Gtardini aufs beste ergänzt.
Gerade unter dem Eindruck der in Kassel geführten Diskussion um die verlorenen oder zu gewinnenden Räume für die documenta erscheint diese langgestreckte Halle, die von einer Doppelreihe äus 86 Säulen gegliedert wird, als eine phantastische Bühne für die Kunst. Kasseler Planspiele, der documenta mit einer 1000-Quadratmeter-Halle hinter dem Fridericianum wieder großzügige Räume zu beschaffen, können angesichts dieser Inszenierungsfläche nur hilflos erscheinen.

„Aperto 88“ ist aber noch aus zwei anderen Gründen von großer Bedeutung: Hatte die entsprechende Ausstellung vor acht Jahren, damals noch in den Salzmagazinen, den Aufbruch der jungen Malergeneration markiert, so verstärkt sich nun der Trend von vor zwei Jahren, als die Vielfalt der Stile und Techniken das Bild bestimmten. Die Malerei ist nur ein Medium unter vielen. Installationen, die die Bilder in den Raum übertragen, prägen die Schau.

Zur Vielfalt der Stile und Techniken paßt die wiederentdeckte Vielfalt der Länder und Kulturen. Der Blick weitet sich. In der Abteilung „Aperto 88“ sind jetzt auch Künstler aus der UdSSR, Indien, Agypten und aus Korea vertreten. Das hat einerseits mit der spürbaren Öffnung, vor allem in der Sowjetunion, zu tun, andererseits mit der gewachsenen Bereitschaft, das westliche Kunstmonopol aufzubrechen. Aber noch in anderen Hinsichten unterscheidet sich die Biennale 1988 gründlich von ihren Vorläuferinnen: In den Giardini fehlt völlig eine zentrale thematische Schau, so daß die Ausstellungen der einzelnen Nationen wieder – gemäß dem ursprünglichen Konzept – ins Zentrum rücken. Den zentralen Pavillon, der sich als Ort der thematischen Ausstellungen eingeprägt hat, hat Italien für seine eigenen Künstler zurück erhalten.

Das er1aubt zwar den Italienern eine großzügige Präsentation ihrer „Kunsthelden“, die angeführt werden von Chia, Ciemente, Cucchi upd Paladino, die 1980 noch zu den jungen Talenten zählten, doch die Weite der Räume vermögen die Italiener nicht ganz zu tragen. Durch die Einbeziehung von Künstlern, die in ähnlicher Art und Qualität auch in anderen Ländern anzutreffen sind, wird der Verlust der thematischen Mitte offensichtlich. Das kann auch nicht dadurch aufgefangen werden, dass unter dem Stichwort „Ambieüte Italia“ acht internationale Künstler hinzugenommen werden; die ganz oder teilweise in Italien leben: Twombly, Matta, LeWitt, Dibbetts, Saint PhaIle, Lüpertz, d‘Almeida und Gischia.

Den schönsten Pavillon hat die Schweiz. durch die Installation von Markus Raetz erhalten. Aus dem kreisrunden Doppelbild des Fernrohres hat Raetz ein heiter-verspieltes System aus Vexier- und Spiegelbildern entwickelt, wobei sich immer erst aus der Distanz die Elemente zu stimmige Bildern zusammensetzen. Die Gegensätze der Kunstwelt prallen im belgischen Pavillon unvermittelt aufeinander: Während Guillaume Bijl ein richtiges kleines (massiv gebautes) Traunhaus mit Gelsenkirchner Barockeinrichtung als das Sehnsuchtobjekt der normalen Menschen hinstellte, blättert Narcisse .Tordoir die Sprache der abstrakten, sich intellektuell selbst bespiegelnden Kunst auf.

Die Bierniale ist beherrscht von der räumlichen .Kunst, von der Skulptur, von der Installation. Allerdings hier kaum etwas von den postmodernen Tendenzen der vorigen documenta. Die Stilgeschichte wird nicht problematisiert, die Stilelemente der unterschiedlichsten Herkunft werden selbstverständlich benutzt, um poetische oder schwerblütig mythische Bilder zu beschwören. Was auf diesem Weg der Italiener Paladino mit der Eleganz eines Designers löst, versucht Felix Droese im deutschen Pavillon komplex zu gestalten und gleichzeitig aufzubrechen.

Den Kern der Inszenierung bilden Droeses riesige Scherenschnittcollagen mit ihren märchenhaften Erzählungen. Diesen eindringlichen Bildrn hat Droese, über die Räume verteilt, Fund- und Bruchstücke als mythische Zeichen hinzugefügt. Sperrig gemacht und aufgebrochen wird diese poetisch leise Inszenierung durch ein riesiges Quadrat aus Balken und Baumscheiben auf deni Boden des zentralen Raumes. Diese in erster Linie gegen die übermächtige Architektur gerichtete Verbarrikadierung hebt den schönen Schein von Droeses Arbeit auf, gibt ihr die Rohheit und Widersprüchlichkeit zurück.

HNA 25. 6. 1988

Seit einem Vierteljahrhundert steht der Name des Malers Jasper Johnsfür die Pop-art und die amerikanischen Kunst überhaupt. Seine Werke waren auf der documenta vertreten und gehören heute zu Beständen der großen Museen der Welt.

Indem die internationale Jury der Biennale von Venedig diesen Altmeister der Moderne mit dem ersten Preis, dem „Goldenen Löwen“, auszeichnete entschied sie sich gegen die junge und ungesicherte Kunst und für das Museale. Museal ist schon das ganze Klima, in dem Johns Werke der letzten 14 Jahre in dem amerikanischen Pavillon auf der Biennale präsentiert werden – klimatisierte Räume und Sicherheitsabsperrungen vor den Bildern. Johns ist über die Jahrzehnte hin seinem malerischen Thema treu geblieben – der Spiegelung von Kunst.

Nach einer Serie von sehr ausgewogenen abstrakten Gemälden hat Johns in den letzten Jahren allerdings die erzählerischen Inhalte wiederentdeckt. In gemalten Collagen trägt er Erinnerungen an das Leben und an die Kunst zusammen und kehrt damit zugleich zu alten Stilmitteln zurück.

Johns‘ Malerei und die Jury- Entscheidung für sie sind symptomatisch für die Situation der Kunst, so wie sie in Venedig zu besichtigen ist. Keine Spur von Aufbruchstimmung. Die Künst1er arbeiten auf, probieren bekannte Wege mit anderen Mitteln aus, vor allem aber denken sie immer wieder über die Kunst und ihre Möglichkeiten nach. Dazu passt, dass jene Auszeichnung, die unter der Bezeichnung „Preis 2000“ an einen Künstler mit Zukunft vergeben werden soll, an die Amerikanerin Barbara Bloom ging, die sich ebenfalls mit der Wirkungsweise von Kunst beschäftigt. Sie hat in der Abteilung „Aperto 88“ eine heitere Raumfolge geschaffen, in der sie mit Blindenschrift arbeitet und mit Tellern, die Fotos von einer spiritistischen Sitzung tragen, zu Bildern vordringt, die nur als Wasserzeichen erkennbar sind.

Existieren die Bilder wirklich, die wir zu sehen glauben? Dieser Frage folgt die entspannende Auflösung in einem völlig blauen Raum, in dem weiße Hüte und Mützen im Kreis schweben; und die dunklen Schatten zu Bildern wachsen lassen. Die Kunst entpuppt sich als der schöne Schein.

HNA 28. 6. 1988

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