Nicht mal ein Rückblick

Der Aufbruchstimmung folgte die Ernüchterung. Die Kunst-Biennale von Venedig, neben der documenta das Kunstereignis des Jahres, die vor zwei Jahren die Avantgarde der 70er Jahre mit einem großen, aber keineswegs musealen Rückblick gefeiert und dabei der jungen frisch-frechen Künst mit Pate .gestanden hatte, zög sich in diesem Jahr weit hinter die erreichten Linien zurück. „Kunst als Kunst“ und „Beständigkeit des Wechsels“ heißt der Titel der zentralen Ausstellung in den Giardini. Das klingt nach hohem Anspruch, doch bringt eigentlich nicht mehr als eine zufällige Auswahl dessen, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten an den Rand des Blickfeldes gerückt worden ist.

Es ist die große Schau der figurativen, im Grenzbereich des Realismus operierenden Kunst geworden. In der Tat gibt es, was die Auseinandersetzung mit dieser Kunst angeht, erheblichen Nachholbedarf. Doch wo das gewollt wird,- muss es schon umfassender, systematischer und qualitativ begründeter geschehen. Hier aber gewinnt man den Eindruck, daß den Verantwortlichen (unter ihnen der Deutsche Matthias Ebene) unterwegs der Atem ausgegangen ist oder ihnen die richtigen Adressen gefehlt haben. Momentelang glaubt man, der Anschluß an die Gegenwart sei verloren gegangen. Eine gute Vorgabe für die documenta 7.

Dieser enttäuschende Gesamteindruck hat nur in Einzelfällen mit einem entsprechenden Urteil über das jewei1ige Werk zu tun. Da gibt es sehr wohl spannende und hervorragende Arbeiten (vor allem Bilder) zu entdecken: Horst Janssens großartige Zeichnungen etwa mit ihrem leicht nervösen, aus den inneren Tiefen der Figuren herausgearbeiteten Strich; oder Johannes Grützkes Ölbilder mit ihrem zur bösen Komik verformten kritischen Realismus; oder die poetischen Skulpturen eines Yvon Theimer , die Bilder und Monumente zugleich sind.

Die vorige Biennale wollte einen Rückblick geben; sie präsentiert aber einen spannenden Ausblick aüf die Kunst. Diese, die 40. Biennale, nun vermag nicht
einmal einen richtigen Rückblick zu vermitteln. Dabei setzt man mit sehr starken Vergangenheitsbezügen ein: Henri Matisse, Egon Schiele und Constantin Brancusi werden in ehrendem Andenken mit einigen Werken zitiert. Doch die Beschwörung dieser guten Geister bewirkte keine Wunder. Dabei hätte eine strengere thematische Konzeption (etwa der Akt oder das Menschenbild) immerhin eine Linie von Matisse und Schiele über Robert Guinan, Alfred Hrdlicka, Horst Janssen, Ronald Kitay, Evert Lundquist, Olivier und Norbert Tadeusz bis zu Varlin ergeben. Hier wurden gleich mehrere Chancen vergeben.

An Prägnanz, Frische und Überzeugungskraft mangelt es auch in den alten Salzmagazinen, in denen in diesem Jahr die eine Hälfte der jungen Künstler ihre Arbeiten zeigt. Es ist, als hätten der Witz und Wildheit von vor zwei Jahren der Beliebigkeit Platz gemacht. Auch die Bilder von Salomé und Rainer Fetting werden von diesem Grauschleier überzogen. Am Ende überzeugt nur noch das, was sich total abhebt wie die Arbeit des Italieners Sergio Pacini Vier dreieckige Marmorpfeiler sind so aufgestellt, daß sie im Raum ein Quadrat bilden, das innen als Rhombus begehbar ist; die Wortfolge Art is a business“ (Kunst ist ein Geschäft), die fortlaufend auf den Pfeilern zu lesen ist, steht fur die Säulen des Kunstbetriebes – Künstler Kritiker, Galerist und Sammler.

Vitaler und insgesamt vielversprechender wirkt lediglich die zweite Jugend-Abteilung, die in einer noch weiter abseits liegenden Fäbrikruine neues Land für die Kunst hinzugewonnen hat. Frappierend ist allerdings die große Zahl der Maler, die sich historisierend der klassischen Formsprache bemächtigt haben.

Die Enttäuschung, die die zentrale Ausstellung auslöst, fördert die Aufmerksamkeit für das, was die 38 Nationen in dem anderen Teil der Biennale als offiziellen Beitrag präsentieren. Und bezeichnenderweise haben hier die Beiträge der UdSSR und der erstmalig vertretenen DDR nichts Exotisches; im Gegenteil, die eindringlichen kritischen und visionären Bilder von Sieghard Gille, Heidrun Hegewald und Volker Stelzmann aus der DDR können sich auf dem Feld dieser Biennale gut behaupten.

Mit besonderem Genuß geht man durch jene Pavillons, in denen ein Land ein in sich geschlossenes Werk vorstellt. Da ist zuerst Österreich, das die archaisch-magische Welt des Zeichners und Bildhauers Walter Pichler vorführt; die USA geben Einblick in die vielfältige Arbeit des Objekt- und Land-art-Gestalters Robert Smithson; Portugal dokumentiert die aus der Aktion entwickelten Körperzeichnungen von Helena Almeida; und Großbritannien erschließt einem die heitere und doch fundamentale Gestaltungswelt des Barry Flanagan.

Der deutsche Pavillon setzt im doppelten Sinne Akzente – gegen das Programm der Zentralausstellung und gegen die Präsentation expressiver, inhaltlich aufgeladener Kunst bei der vorigen Biennale.

Es ist schon oft gesagt worden, in den Zentralraum des Pavillons paßten eigentlich nur plastische Arbeiten. Auch die Übergabe des
Raumes an den Maler Gotthard Graubner änderte nichts an der Richtigkeit der Meinung: Graubners vier mal vier Meter großes Farbkissen steht in diesem. Raum wie eine plastische Arbeit, nimmt ihn in Besitz und zieht aus ihm heraus das Licht, um noch intensiver in den Rottönen aufzuleuchten. Das am Ort entstandene Bild gleicht einer Landschaft beieinander liegender Farben, die sich absetzen und angleichen und doch nicht faßbar sind.

Wolfgang Laibs Beiträge wirken dagegen still und asketisch; sie erschließen sich dem erst richtig, der nachvollzieht, daß das gelbe Bodenbild aus selbst gesammeltem Blütenstaub besteht und der zum Gefäß ausgeschliffene weiße Marmor (der nun mit Milch gefüllt ist) im fast Vorzeitlichen Rhythmus bearbeitet wurde.
Der dritte Teil des Pavillons führt Hanne Darbovens ebenso existentiell erarbeiteten Schreibtafeln als eine riesige, die hohen Wände erklimmende Masse vor.
Die roten Einfassungen der Tafeln geben ihnen als Ganzes eine starke optische Kraft und einen bildhaften Eigenwert.

HNA 15. 6, 1982

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