Die Wand malt sich selbst

Es war fast so wie zu Weihnachten kurz vor der Bescherung: Die Tür des deutschen Pavillons auf dem Bieniale-Gelände in Venedig blieb bis zuletzt geschlossen. Und so waren alle gespannt und rätselten, ob Sigmar Polke, der in diesem Jahr allein die deutsche Kunst vertritt, mal wieder nicht rechtzeitig fertig geworden sei oder ob einfach nur die Erwartungen hochgeschraubt werden sollten. Beides traf wohl zu. Also war der Andrang entsprechend groß, als endlich am letzten der drei Vorbesichtigungstage der Blick auf Polkes Biennale-Beitrag freigegeben wurde.

Es wurde ein großer Auftritt: Wieder einmal ist der deutsche Pavillon zum Ort für eine umfassende und anspruchsvolle Inszenierung geworden, in der
die einzelnen Werke nicht für sich stehen, sondern im Gesamtkomplex aufgehen Der in Köln lebende Sigmar Polke, der seit zwei Jahrzehnten zu den richtungsweisenden deutschen Künstlern gerechnet wird, hat die fünf Räume gestaltet, in denen er malend über die Farbe und die Malerei nachdenkt. Der Künstler, der mit seinen auf die Wirklichkeit reagierenden Rasterbildern und seinen Tuchübermalungen Maßstäbe gesetzt hat, stellt sich hier – in Fortsetzung seines documenta-Beitrages von 1982 – als ein Suchender und Untersuchender vor. Der Besucher stößt auf ganz unterschiedliche Bildgruppen, die den Hang zum Experimentellen unterstreichen: Großformatige, spiegelnde Lackbilder gelangen von einer bloßen Fleckigkeit zu fast asiatischer Zartheit und Tiefe. Zart und verhalten ist auch die Bemalung der halbrunden Wand (Konche) am Kopf des deutschen Pavillons.

Diese rötlich-blaue Kobaltchloridmalerei soll auf Feuchtigkeit reagieren und sich folglich laufend verändern: „Die Wand malt sich selbst“. Andere Bilder entwickeln sich unter dem Einfluß von Wärme und Licht. Dann wieder stellt Polke in einem Viererblock von Gemälden reine klassische Farben vor oder er setzt sich in Graphitbildern (mit Silberoxyd) mit Formelementen Dürers auseinander. Aber auch Polkes figur Rasterbilder mit sozialkritischen Anspielungen tauchen auf – doch aus ihnen ist die Farbe gewichen.

Sigmar Polke weist mit diesem bei aller Zarthit kraftvollen und tonangebenden Beitrag der Malerei nicht unbedingt einen neuen Weg, doch er zeigt, welche Freiheiten und Möglichkeiten er für sich zurückerobert hat. Polkes Malerei passt genau zu dem Generalthema der 42. Biennale von Venedig, das dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft gewidmet ist. Die wissenschaftliche Farbanalyse und die künstlerische Farben1ehre gehören ebenso dazu wie die versponnenen Form- und Raummodelle der Manieristen oder die Geheim- und Nebenwege der Alchemisten. Polkes Beitrag liefert eine hervorragende Variante zum Verhältnis von Kunst und Alchemie.

Ob Antworten für die Kunst der Zukunft daraus erwachsen. ist ebenso fraglich, wie man daran zweifeln muß, ob die an Computern entwickelten Bild- und Raumkonzepte wirkliche künstlerische Bedeutung gewinnen können. Die Biennale hat sich um eine umfassende Darstellung der Problematik bemüht. In sieben Abteilungen wird an Hand von Bildern und Objekten das vielschichtige Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst im Laufe der Geschichte dokumentiert. Alchemistische Schriften sind zu bewundern, Perspektivmodelle des Barock, Gemälde der Jahrhunderte und Projektionen des elektronischen Zeitalters. Der Blick geht dabei mehr zurück als nach vorn.

Im Wechselspiel mit der Wissenschaft werden drei Hauptströmungen der Kunst herausgearbeitet: die rational-analytische Bilderwelt der Konstruktivisten, die Visionen und Versponnenheiten gebärende Kraft der Surrealisten und die relativ junge Kunst, die mit einfachen sinnlichen Mitteln eigene (schein)wissenschaftliche Systeme schafft. Die beiden ersten Stränge leiden aber auf der Biennale darunter, dass die Meisterwerke in einer Flut zweit- und drittklassiger Objekte zu ertrinken drohen.

Die 42. Biennale, die heute eröffnet wird, rühmt sich, die größte Ausstellung in ihrer eigenen Geschichte zu sein: Auf 30000 Quadratmetern werden bis 28. September 2 500 Werke von über 600 Künstlern gezeigt. So aktuell der thematische Ansatz ist, so sehr verdünnt sich aber die Idee in der Vielzahl der historischen und technischen Wege.

HNA 29. 6. 1986

Aus der Wunderkammer der Kunst

Ein aus der Mode gekommenes deutsches Wort ist in diesem Jahr der Schlüssel zum Zauber der Kunst-Biennale in Venedig:
Wunderkammer In der Barockzeit meinte man damit Schausammlungen mit seltenen Musikinstrumenten. Der Begriff steht aber auch allgemein für die fürstlichen Kunst- und Raritätenkammern, in denen Schönes, Kostbares und Kurioses gesammelt wurde und aus denen sich im 18. und 19. Jahrhundert die Museen entwickelten. In der Wunderkammer findet sich alles, das perspektivisch ausgeklügelte Galerien-Modell, die spielerisch überdrehte Elfenbeinschnitzerei und die geheimnisvoll erzielte Bildwirkung. Und so ist mit dem Biennale-Motto „Kunst und Wissenschaft“ das ganze Feld der kunstvollen Hervorbringungen umschrieben – Konstruktives, Magisches, Mythisches und Phantastisches. Die bis zum 28. September laufende Biennale in der Lagunenstadt bemüht sich folglich um ein umfassendes Modell des bildlichen Denkens und Schaffens. Damit gibt sie aber auch den Anspruch auf, Wegweiser im Bereich der aktuellen Kunst zu sein.

Die zentrale Ausstellung der Biennale zum Thema „Kunst und Wissenschaft besteht aus sieben Abteilungen, die so umfangreich angelegt sind, daß neben dem Hauptgebäude in den Giardini noch weitere, über die Stadt verstreute Standorte einbezogen werden mußten: „Raum“, „Kunst und Alchemie“,
.‚Wunderkammer“, „Kunst und Biologie“, „Farbe“, „Technologie und Information“ sowie „Wissenschaft für die Kunst“. Darüber hinaus gibt es noch die nationalen Beiträge von 41 Ländern zu sehen und die in diesem Jahr geschrumpfte Abteilung für junge Kunst („Aperto“).

Überall, auch in den nationalen Pavillons und in „Aperto“ findet man Arbeiten, die direkt zum Generalthema hinführen. Die dichteste und schönste Abeilung aber birgt die „Wunderammer“, in der sich Raritäten und Kunstwerke aus mehreren Jahrhunderten begegnen.

Dreieck, Quadrat und Kreis, Pyramide, Würfel und Kugel: In allen Zeiten strebten die Wissenschaftler, Baumeister und Künstler danach, die ideale Form zu finden, die die Eckpunkte des Lebens und Glaubens und gleichzeitig der unterschiedlichen geometrischen Modelle in sich vereinigt. Die großen Kuppe1bauten sind auf diese Modelle zurückzuführen, aber auch Bildkompositionen. Künstler und Wissenschaftler bemühten sich außerdem, in ihren Entwürfen auf von der Natur vorgegene Formen einzugeben. Vor allem das Ei, das Sinnbild vom Ursprung des Lebens, beschäftigte die Menschen durch Jahrtausende.

In immer neuen Zusammenhängen taucht das Ei bis in die Kunst unserer Tage als Schlüsselform auf.: Der Collag-Künstler Jiri Kolar hat ein 85 Zentimeter hohes Ei geschaffen und mit kleinen Bildschnipseln derart umhüll, daß der Betrachter in einer Flut von Botschaften aus der Welt- und Kunstgeschichte ertrinkt. Rebecca Horn hingegen läßt ein Ei durch ein spitzes, hin- und herschwingendes Pendel bedrohen.

Besonders attraktiv sind jene Vitrinen, in denen in lockerem Wechsel barocke Kabinettstücke des Kunsthandwerks und Erfindungen der Surrealisten zu sehen sind: Ein winziger Teufel im Glas aus dem 17. Jahrhundert findet sich so neben einer Arbeit von Meret Oppenheim, die zwei Stöckelschuhe auf einem Tablett in der Weise serviert hat, däß man glaubt, ein Hähnchen vor sich zu haben.

Von den italienischen Künstlern beherrscht ist jener Teil der Wunderkammer, in der Magisches und Mythisches beschworen werden. Mario Merz, Giuseppe Penone, Gilberto Zorio und Fausto Melotti geben hier den Ton an. Schmerzlich vermißt man jedoch in diesen Räumen Joseph Beuys, der der Kunst den Weg zu den Urkräften gewiesen hatte. Führend sind die Italiener auch in der Hauptabteilung, in der es unter dem Stichwort „Kunst und Alchemie“ etwas drunter und drüber geht. Überspitzt könnte man sagen, diese Abteilung diene allein dem Zweck, zweit- und drittrangige Surrealisten zu Ehren kommen zu lassen. Tatsächlich erdrücken
die Masse und die bisweilen mangelnde Brillanz der Arbeiten die Meisterwerke, die dort auch zu finden sind. Aber nicht nur zum Sondieren braucht der Besucher Zeit und Kraft. Da nämlich die Bilder und Objekte, die die Alchemie zum Thema haben, bunt gemischt sind mit jenen, die mit alchemistischen Mitteln geschaffen sind, bedarf es hier einer ausgiebigen Auseinandersetzung.

Ein schöner Bogen läßt sich ziehen von René Magrittes Gemälde „Landschaft in Flammen“ (1928), in dem die vier Elemente beschworen werden, zu einer
Metallstele von Eric Orr, über die Wasser herunterläuft und aus deren Mitte heraus gleichzeitig Gasflammen züngeln. Bereits vor dem Hauptpavillon symbolisiert eine Riesenplastik die Aktivierung der Urkräfte: Aus einer Stahltonne erhebt sich ein gewaltiger Bronzetorsoder von duftendeni Rauch umhüllt ist. Geburt des Eros hat Igor Mitoraj diese Arbeit betitelt.

Die Wendung der Biennale zurück in die Kunstgeschichte wird am stärksten dadurch belegt, daß in der Kuppel der Eingangshalle die historisierenden Deckengemälde von Galileo Chini aus dem Jahre 1909, die seit sechs Jahrzehnten unter einer neutralen Verkleidung verborgen waren, wieder freigelegt wurden. Gewiß ein Zugewinn, doch aber auch ein unübersehbares Signal. Sucht sich die Biennale auf Dauer im Kunstbetrieb eine neue Rolle, zumal die Reihe der großen internationalen Ausstellungen andernorts immer länger wird?

Auch in Venedig selbst ist der Biennale eine Konkurrenz herangewachsen. Der von Fiat übernommene restaurierte Palazzo Grassi trumpft gleich mit seiner ersten Ausstellung groß auf. Was hier zum Thema „Futurismus zusammengetragen wurde, überstrählt in seiner Qualität und Dichte beiweitem die zentrale Biennale-Ausstellung.

Am meisten enttäuschen jene Teile der Biennale, die mit der technischen und elektronischen Projektion und Reproduktion von Farbprogrammen und Raummodellen spielen. Das technische Wunderwerk, das für Planer und Konstrukteure hilfreich sein mag, besitzt nur eine oberflächliche Faszination, weil die Künstler und Baumeister der letzten Jahrhunderte schon viel raffinierter die Formen fanden, die nun Zeichenmaschinen und Computer nachvollziehen.

Der hiesige Kunstbetrieb erlebt derzeit einen Streit zwischen Malerei und Skulptur um die Vorrangstellung. Und alles spricht dafür, dass auch mit Blick auf die nächste documenta dieser Streit zugunsten der Skulptur, der raumbezogenen Kunst entschieden wird. Ein k1ares Signal in diesem Sinne geben Mimmo Paladino und Keith Hearing: Paladino stellte eine Bronzehalbfigur vor eine Wand, auf der rote Bildsegmente zu plastischen, runenhaften Zeichen geordnet sind, und von Hearing sieht man eine Figur und eine Vase, die auf die Antike anspielen und bemalt sind mit seinen unverkennbaren Strichmännchen.

Ansonsten öffnet sich die Biennale nur in einer Hinsicht stärker der Skulptur als in früheren Jahren: Auf der Uferpromenade zu den Giardini weisen
die Freiplastiken junger Künst1er den Weg ins Ausstellungsgelände.

HNA 5. 7. 1986

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