Bilder wie aus dem Nichts

Obwohl die Biennale dieses Sommers in Venedig nur mit Ach und Krach zustandegekommen ist, geben sich die Verantwortlichen selbstbewusst: „Weder Kassels documenta noch irgend eine andere Kunstausstellung der Welt … darf hoffen, so wie die Biennale von Venedig zu sein, schreibt deren Direktor Giovanni Carandente im Katalog. Seine Begründung: In keiner anderen internationalen Kunstschau findet ein derart offener Wettbewerb zwischen den verschiedenen Generationen und Stilen statt, nur hier begegnen sich die gegensätzlichen Welten.

In der Tat hat sich Erstaunliches vollzogen: Über eineinhalb Jahrzehnte hinweg bildete eine zentrale, häufig thematische Ausstellung den Kern der Biennale von Venedig. Sie zog alle. Aufmerksamkeit auf sich und forderte zum direkten Vergleich in etwa mit der documenta heraus. Dabei ging dieser Vergleich bei den drei voraufgegangenen Biennalen stets zugunsten der Kasseler Kunstschau aus. In diesem Jahr äber fiel die zentrale Ausstellung eigentlich mehr aus zeitlicher Verlegenheit (eine existenzbedrohende Krise der Biennale hatte alle Planungen in Verzug gebracht) aus – und siehe: das ganze Interesse konzentriert sich nun auf das, was sonst auch immer da war, nämlich auf die nationalen Pavillons, in denen 44 Länder in eigener Verantwortung einen oder mehrere m Künstler mit ihren Werken vorstellen. Zugegeben, diese Rückbesinnung auf die Uridee der Biennale bringt Gewinn. Der Blick wird frei für das breite Spannungsfeld zeitgenössischer Kunst; man genießt, daß man nicht ausschließlich der subjektiven Perspektive einer Jury oder eines Kommissars ausgeliefert ist.

Lediglich zwei Abteilungen sind von einer internationalen Jury gestaltet worden: eine relativ schwache Skulpturenschau im Eingaiigsbereich des herr1ichen Biennale-Parks (Giardini) und jene Ausstellung jüngerer Kunst, die seit 1980 unter dem Titel „Aperto“ (offen) schon Tradition hat und die in diesem Jahr in einer schier endlosen Halle aus dem 16. Jahrhundert einen faszinierenden Ort fand.

Drei Elemente, die die vorjährige documenta prägten, spielen in Venedig keine Rolle: Das neue Design, obwohl auch eine italienische Domäne, fand ebensowenig Aufnahme in der Biennale wie die auf Zeit angelegte Kunst, die Performance. Aber auch Schneckenburgers These von der Wiederentdeckung sozialer Dimensionen durch die Kunst findet, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Niederschlag; selbst die plastischen Arbeiten, denen im Park eine Sonderschau gewidmet wurde, feiern hier ihre Wiedergeburt als traditionelle, nur durch sich selbst bestimmte Skulpturen.

Trotz aller strukturellen und inhaltlichen Unterschiede gibt es eine große Gemeinsamkeit zwischen dieser Biennale und der letztjährigen documenta. Die Malerei, in den Jahren zuvor das prägende Element, spielt eine untergeordnete Rolle. Das heißt aber nicht, daß damit auch die Farbigkeit abhanden gekommen wäre. Das Bild ist eben bloß nur noch als eine von vielen Ausdrucksmöglichkeiten anzusehen.

Zwar ging der Hauptpreis der Biennale an einen Maler, an Jasper Johns (Jahrgang 1930), der im amerikanischen Pavillon demonstriert, wie aus der zeitgebundenen Pop-art die Zeitlosigkeit hoher Malkunst erwachsen kann. Diese Preisvergabe ist – aber mehr rückwärtsgewandt. In die Zukunft weist da eher der „Nachwuchspreis“ für die 37jährige, ebenfalls aus den USA kommende Künstlerin Barbara Bloom, die ihre in mehreren Stufen entwickelte Arbeit mit einem blauen Raum krönt, in dem weiße Hüte und Mützen, die im Kreis schweben, dunkle Schatten an die Wand werfen. Alles scheint leicht, fröhlich und schwerelos in diesem Farbraum. Und doch ist die Atmosphäre rätselhaft: Die Personen, die von den Hüten und Mützen markiert werden, sind entschwunden, sind ungreifbar, unsichtbar geworden. Das alte Vexierspiel der Kunst, das die Wahrnehmung bis an ihre Grenzen vorantreibt, wird hier aufs Neue in Gang gesetzt.

In die gleiche Richtung zielt Markus Raetz, der im Pavillon der Schweiz vorführt, wie aus minimalen und nichtig scheinenden Mitteln Zauberbilder entstehen können, vorausgesetzt, man geht nicht nahe heran, sondern bleibt in einerbestimmten Richtung möglichst weit weg. Alles ist eine Frage der Perspektive: Aus krummen Hölzern formt sich ein Gesicht, das wiederum im Spiegel als der Oberkörper einer menschlichen Figur erscheint. Der illusionäre Charakter der Kunst wird selbstbewußt freigelegt.

Zahlreiche rote Fäden lassen sich quer durch die Biennale verfolgen. Vön der Übermacht der plastischen, in den Raum drängenden Arbeiten war schon die. Rede. Auch die Farbigkeit der Plastik, herrlich zu studieren an den Traumfiguren von Motti Mizrachi, ist ein erstaunliches Phänomen. Noch stärker stehen die Arbeiten dieses israelischen Künstlers aber für das Wiederauftauchen mystischer und mythologischer Figuren und Themen: Mizrachi läßt auch noch -einen sechs Meter Mann mit Spitzhacken auf die Fassade des israelischen Pavillons einhauen. Mario Ceroli hingegen läßt ein sechs Meter hohes geflügeltes Pferd dem venezianischen Himmel entgegen springen.

Die geflügelten Wesen und die anderen aus der Tiefe der Legenden und Sagen auftauchenden Figuren sind mehr als nur eine Artigkeit gegenüber der Stadt, die seit Jahrhunderten im Zeichen des geflügelten Löwen blüht, gedeiht und verfällt. Ganz unbekümmert greifen der Künstler der verschiedensten Generationen und Regionen auf die Fabelwesen und Mythen zurück, bespiegeln sich selbst und ihre Träume und schaffen zuweilen eine bedrückende künstlerische Realität. Dies gilt insbesondere für Chia, Clemente, Cucchi, Paladino, die vor acht Jahren hier als die jungen Italiener mit überbrodelnden Farben aufbrachen und nun im Zeichen der Mythen und der Selbstbefragung dunkel, schwer und merkwürdig starr geworden sind.

HNA 17. 7. 1988

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