Schutt der Geschichte

Eine Girlande aus Sonnen und Monden rahmt ein Bild des Weltalls ein, durch das der Schutt der klassischenVegangenheit fliegt, antike Säulen und Quader. Dieses Bild als Signet der 41. Biennale von Venedig enthält programmatisch den Nachruf auf die Avantgarde, die diese Ausstellung unter dem Titel „Kunst und Künste, Gegenwart und Geschichte“ nachdrücklich zelebriert. Zum Glück aber beweisen etliche Beiträge in den nationalen Pavillons und auch in der zentralen Schau, daß das Beerdigungszeremoniell für die avantgardistische Kunst voreilig ist und daß die aufwendige Beschwörung der Kunstgeschichte vor allem dazu dient, (italienischen) Künstlern, die ihr Heil in einer allzu glatten, neoklassischen Sprache suchen, zu einer Rechtfertigung zu verhelfen.

Das ist, kurz gefaßt, die eine, die enttäuschende Seite dieses großen Kunstsommers in Venedig, der am Pfingstsonntag mit der Eröffnung der Biennale begann. Die andere erfreuliche Seite ist die ungeheure Vielfalt der Ausstellungen. Allein die Biennale umfaßt. fünf Abteilüngen: Die beiden zentralen Themen-Schauen „Kunst im Spiegel“ und „Kunst, Umgebung, Szene“ sowie die Einzelausstellungen von 33 Nationen in den Giardini; außerdem die Vorstellung der jungen Talente („aperto 84“) in den Salzmagazinen und das großartige kunsthistorische Porträt der Wiener Kunstepoche zwischen 1897 und 1918 („Die Künste in Wien“) im Palazzo Grassi. Darüber hinaus gibt es im Stadtgebiet eine Reihe weiterer großer Ausstellungen – beispielsweise eine Gesamtschau der Bilder des „alten wilden“ Italieners Emilio Vedova; „Malerei in Frankreich“ im Palazzo Sagredo und als Signal der neu gegründeten. Accademia-Stiftung unter dem Titel „Quartetto“, ein Ausstellungsprojekt, an dem Beuys, Cucchi, Fabro und Nauman beteiligt sind (S. Giovanni Evangelista).

Bereits vor zwei Jahren war der Biennale ihre Annäherung an die figurative und realistische Kunst mißglückt, weil sie nicht gerade immer überzeugende Werke als Belege herangeholt hatte. Dieses Mal nun werden aus 50 Jahren Kunstgeschichte sogar abseitige und schlechte Bilder bemüht, um zeitgenössische Kunst zu propagieren, die bis in die Bereiche des Kitsches reicht.

Ausgangspunkt für die zentrale Abteilung „Kunst im Spiegel“ (besser: Kunst über Kunst) ist einmal die Beobachtung, daß sich viele Künstler in ihren Werken mit Kompositionen anderer auseinandersetzen; zum zweiten will man verdeutlichen, wie stark sich zeitgenössische Künstler in die Geschichte und ihre Mythen versenken.

Beides sind richtige Ansätze, doch beide wurden hier nur verkürzt gesehen und daher mißbraucht. Der Beitrag im deutschen Pavillon deutet an, wie das zentrale Thema hätte verstanden werden können: A. R. Penck versucht, in seinen kräftig und impulsiv gemalten Zeichen und Symbole zu einer Bildsprache zu verdichten, die auch außerhalb unserer geschichtlichen Zusammenhänge zu begreifen ist. Und Lothar Baumgarten ließ in den Pavillon-Boden Marmor-Platten einlegen,

um mit abstrakten Bildzeichen und konkreten Schriftbändern an die Mythen jener indianischen Völker zu erinnern, deren Bedrohung und Verdrängung auch von Venedig aus betrieben wurde.

Auch der Beitrag der Holländer, Ölbilder von Armando, ist mythisch ausgerichtet, dabei aber doch vor allem ein Werkkomplex zum Thema Malerei. Oder innerhalb der zentralen Ausstellung: Arnulf Rainers einkreisende, gegenläufige und dann wieder verstärkende Ubermalungen von Grünwald- und Goya-Reproduktionen oder die kleinteiligen Rekonstruktionen fiktiver klassischer Stätten (hier nur noch als riesiger Trümmerberg) von Anne und Patrick Poirier‚ oder die ironisch-brüchigen Zitate klassischer Formensprache von Man Ray, Marcel Duchamp, Giulio Paolini und Michelangelo Pistoletto.

Doch dies alles wird erdrückt von einer Aneinanderreihung beiläufiger und zweifelhafter Bilder, angefangen bei dem Spätwerk von de Chirico, nicht unterbrochen durch erstaunlich flache und glatte Klassik-Collagen von Robert Rauschenberg und endend bei der neo-klassischen und dabei unpolitischen Marmor- und Öl-Pracht der Italiener, in der es selbst ein Sandro Chia, für uns ein Star der jungen Malerei, schwer hat, sich zu behaupten.

Der amerikanische Pavillon mit seinem Thema „Verlorenes Paradies – wieder gewonnenes Paradies“ – paßt dazu hervorragend: Naive und Wilde verbünden sich zu einer modischen Malerfront. So regiert die heile Welt und so wird die neue Malerei in Verruf gebracht.

12. 6. 1984

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