Geben die deutschen Künstler in der internationalen Szene den Ton an? Ein Besucher, der die Teilnahmeliste der Künstler studiert, die zur 44. Biennale in Venedig eingeladen wurden, könnte leicht zu dieser Meinung kommen. Denn so deutsch war diese Nationen-Ausstellung noch nie: Im zentra1en Pavillon, in dem bei früheren Biennalen internationale Themenausstellungen zu besichtigen waren, präsentiert sich nun das Ambiente Berlin mit 42 Künstlern aus beiden Teilen der wieder zusammenwachsenden Stadt. Dann haben die Bundesrepublik und die DDR zum letzten Mal in der Lagunenstadt zwei getrennte Nationen-Pavillons bestückt. Und schließlich sind in der Schau Aperto 90, in der jüngere Künstler vorgestellt werden, von den über 80 Teilnehmern zehn Deutsche aus Ost und West.
Die Zahl und die Masse täuschen. Obwohl die deutsche Kunst seit einigen Jahren international stark beachtet und hoch gehandelt wird, haben nicht Qualität oder Pioniergeist die deutschen Künstler ins Zentrum katapultiert, sondern die besonderen politischen Verhältnisse. Das Ambiente Berlin kam ja genau deshalb zustande, weil die bislang geteilte Stadt nicht der Kunst-Nabel der Welt war, sondern eine eher exotische Insel. Und genau in dem Fehlschluß, dass die Stadt, die die ganze politische Aufmerksamkeit der We1t auf sich zieht, auch das gesammelte internationale Kunst-Interesse verdiene, liegt die Ursache für das Scheitern des Berlin-Beitrages begründet.
Geplant war Ambiente Berlin eigentlich schon zur Biennale 1988. Als die Schau dann wirklich für dieses Jähr vorbereitet wurde, war der Eiserne Vorhang noch dicht. Die Kunstszene Berlin hatte den Osten aussparen müssen. Mit dem 9. November ergab sich jedoch die Chance, den Blick zu weiten und Künstler aus Ost-Berlin hinzuzuladen.
Überraschend ist, wie vor allem im Bereich der Malerei zahlreiche Künstler aus Ost und West die gleiche Sprache sprechen: Berlin offenbart sich hier als ein fast einheitlicher Nährboden für expressive und realistisch-kritische Kunst. Ob Wolfgang Petrick, Klaus Vogelgesang, Wolf Vostell oder Dieter Hacker im Westen oder ob Walter Libuda, Hans Ticha oder Trak Wendisch im Osten – in allen ihren Bildern werden Ängste und Nöte formuliert, wird der Schrecken in grellen Farben gebannt oder düster beschworen. Mag sein, daß die Sonderrolle, die West-Berlin vier Jahrzehnte lang spielte, die Entfaltung inhaltlich bezogener Kunst hier weit stärker förderte als in anderen Kunstzentren.
In Venedig passiert nun das Kuriose, daß das inhaltliche, also politische Interesse, das Ambiente Berlin in Gang setzte, die Biennale wenig berührt. Vielmehr sind die das Kunstklima prägenden Ausstellungsmacher und die meisten Kritiker allein an gestalterischen, also ästhetischen Fragen interessiert. So waren bei der Vorbesichtigung der am Sonntag öffnenden Biennale überwiegend enttäuschte oder vernichtiide Urteile über den Berlin-Beitrag zu hören.
Die Berliner Künstler sind zu Unrecht Opfer der dem Kunstbetrieb eigenen Widersprüche geworden. Natürlich sind sie überfordert, wenn sie das Zentrum der Biennale ausfüllen sollen; das können sie nicht. Aber sie können dokumentieren, wie vielfältig die Kunstszene einer Stadt sein kann und wie intensiv und spontan Künstler auch heute noch auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen reagieren. Mag sein, daß die beiden Bilder, die K. H. Hödicke in den ersten Monaten dieses Jahres malte, nicht zü seinen stärksten gehören, doch der schwarz-rot- gelbe Sturm aufs Brandenburger Tor zeigt, wie ein Maler die ihn selbst mitreißende Entwicklung reflektiert und wie er seine Hoffnungen und Befürchtungen abmalt.
Internationales Flair erhielt Ambiente Berlin durch die Hereinnahme solcher Künstler. die im Laufe der letzten Jahre Stipendiaten des Deutschen Akademischen Austausch- Dienstes (DAAD)in Berlin waren: Armando, Pier Paolo Calzolari, Nancy und Edward Kienholz und Guiseppo Spagnulo Auf diesem Weg schaffte es die Biennale, auch wieder einmal den alten italienischen Wilden und venezianischen Platzhirsch Emilio Vedova an vornehmster Stelle zu plazieren: In der Eingangshalle präsentiert er seine Malerei-Installation Absurdes Berliner Tagebuch von 1964, die in der documenta III zu sehen war.
Deutsche Kunst 1990: Größer könnten die Gegensätze nicht sein, als sie sich in den beiden deutschen Nationen-Pavillons manifestieren. Expressiv, an der Welt leidend und nach einer neuen malerischen Form suchend, stellen sich Hubertus Giebe und Walter Libuda aus der DDR vor. Im bundesdeutschen Pavillon hingegen herrschen Strenge, Perfektion und Unterkühltheit. Reinhard Muchas großer Bau, mit dem er die faschistische Architektur des Ausstellungsgebäudes aufnimmt und aufbricht, wirkt glatt und hermetisch. Die darum gruppierten Gras-, Stahl- und Filz-Vitrinen verstärken das abweisende Element.
Je mehr man sich jedoch auf Muchas Raum einlässt, desto intimer und zugänglicher erscheint er. Das glatte ästhetische Raster birgt eine ironische Brechung: Hinter Glas werden wie Kunstschätze in klarer Ordnung die Dielenbretter aüs Mudias Düsseldorfer Atelier präsentiert. Unten und oben sind ausgetauscht. Hinter der perfekten Fassade wird die (deutsche) Selbstbezogenheit sichtbar. Wirklich unpersönlich, frei von jeder einfärbenden Stimmung sind die Fotografien, die Bernd und Hilla Becher in drei Jahrzehnten von Industriebauten anfertigen. Sie haben die Bauwerke, von denen viele nicht mehr stehen, idealtypisch aufgenommen immer aus der gleichen unverzerrten Perspektive, ohne Menschen, ohne Wölken und Schätten: Die Bechers haben mit dieser Sachfotografie der Kunst einen wichtigen Weg gewiesen. Die Ausstellung ihrer Fotos im bundesdeutschen Pavillon ist eine angemessene, aber verspätete Ehrung eines konsequenten Lebenswerkes.
HNA 26. 5. 1990