Es fehlt die Mitte

Im belgischen Pavillon der Biennale von Venedig wird der Bildhauer Jean-Marc Navez mit ausgefeilten und witzigen Skulpturen vorgtellt. Navez ist Wallone. Ein Grund für den anderen Teil Belgiens, Flandern, seine Kunst aufwendig zu präsentieren. Im Palazzo Sagredo, nicht weit von der Rialto-Brücke entfernt, inszenierten die Flamen eine imponierende, poetische Schau. Der große Andrang zur Eröffnung war aber kaum damit zu erklären, daß alle Welt nun ihre Liebe zur flämischen Kunst entdeckt hätte. Das Interesse galt eher dem Mann, dessen Geist diese Ausstellung mitgeformt hat und dessen Name für ein anderes Großereignis der Kunst steht: Jan Hoet. Er wurde zum Star, weil er die Kasseler documenta von 1992 vorbereitet.

Völlig zu Recht gingen in Venedig die Blicke sehr bald über die Biennale hinaus: Seit diese internationale Ausstellung ohne ihre zentrale Themenausstellung auskommen muß, fehlt ihr die Mitte und damit die Basis für eine ernsthafte Konkurrenz zur Kasseler documenta, So schwankend und umstritten auch die Themenschauen der Biennale in früheren Jahren gewesen sein mochten, sie hatten dieser Großveranstaltung immerhin eine verbindliche Form, eine Stoßrichtung gegeben. Hier war zu sehen und zu prüfen, was einige Kommissare für wichtig und zeitgemäß im Kunstbetrieb hielten.
Weder die im Zentrum angesiedelte Abteilung „Ambiente Berlin“ noch der breit gefächerte Beitrag Italiens noch der Überblick über die Werke junger Künstler in der unvergleichen Halle der ehemaligen Seilerei („Aperto 90“) können den erhofften Halt bieten. So zerfällt das Großereignis Biennale in eine fast unüberschaubare Fülle großer und kleiner, attraktiver und überflüssiger, innovativer und imitativer Einzelausstellungen. Die venezianische Kunstschau käme damit ihrer Ursprungsidee vom Dialog der Künstler und Kunstwerke aller Welt wieder nahe, wenn dieser Dialog auch stattfände, wenn die Spannungsbögen gezogen würden. Doch das muß der einzelne und dazu nicht von Vorurteilen belastete Besucher leisten. Ihm ist es möglich, eine Wanderung über die in unterschiedlichen Ebenen der Kunst zu unternehmen – von der Kunst der Ureinwohner (Australien) zu den Bildern des Leidens (Rumänien) und zu den Objekten der Stille (Skandinavien).

Jeder Versuch, aus dem Angebot der Biennale eine Theorie über den Stand und die Tendenz der aktuel1en Kunst zu entwickeln, ist zum Scheitern verurteilt. Selbst in der Ausstellung „Aperto 90“, die mit ihrem Titel (,‚Offen“) einen gewissen Ausblick-Charakter andeuten soll, wird nur die Buntheit, die Uneinheitlichkeit sichtbar.
Man hofft, daß die im aufdringlichen Kitsch-Stil inszenirten Objekte von Jeff Koons nicht unsere Zukunft sind, und gewinnt keine Gewißheit beim Anblick bekannter konzeptueller Werke in neuer Auflage.

Vielleicht ist es der Vortei1 der Biennale von Venedig (im Gegensatz zur documenta), daß hier die Kunstwelten unversöhnlich aufeinander treffen. Man sieht sehr schnell, was aus den reichen ünd den armen Ländern kommt. Die USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Österreich und die Bundesrepublik inszenieren mit einer Eleganz und Perfektion, die schon erschrecken. Besonders krass verdeutlicht dies der amerikanische Pavillon in dem die Künstlerin Jenny Holzer vorgestellt wird, deren Arbeit seit Jahren darin besteht, provozierende Texte auf Haus- und Plakatwände, auf Schrifttafeln und T-Shirts unters Volk zu bringen. In Venedig nun wird Jenny Hoizers Kunst veredelt. Sie schuf mit ihren sich im Marmorfußboden spiegelnden Leuchtschriften zwar unzweifelhaft den schönsten Pavillon (in dem man glaubt, den Boden unter den Füßen zu verlieren), doch diese Schönheit überstrahlt und überschattet ihren einstigen Drang zur aufrüttelnden Wahrheit.
Nicht weniger kühl, perfekt, spieg1nd und dabei auch abweisend ist der zentrale von Reinhard Mucha gestaltete Raum im bundesdeutschen Pavillon. Seine sich schier endlos wiederholenden Vitrinen und sein hineingebautes Haus, das den Boden zur Wand erhebt, setzen derart konsequent auf die strenge Form, daß man lange braucht, um dahinter die typisch deutschen Selbstbespiegelung zu entdecken.
Mit der existentiellen Malerei der ostdeutschen Künstler hat diese Kunst ebenso wenig zu tun wie mit den Bildern der australischen Ureinwohner. Die Biennale dokumentiert in aller Härte dieses Nebeneinander und damit die Widersprüche der Kunstwelt.

HNA 31. 5. 1990

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