„Es ist mir so weh ums Herz“

Ergreifende Lesung aus dem Buch „Mein verwundetes Herz“ in der Klosterkirche Guxhagen

Eine bedrückende Vorstellung: Während sich in der Kirche des ehemaligen Klosters Breitenau (in Guxhagen, Schwalm-Eder-Kreis) die örtliche Gemeinde zum normalen sonntäglichen Gottesdienst versammelte, saßen unmittelbar hinter den Mauern der Kirche die Gefangenen des nationalsozialistischen Arbeitserziehungslagers in ihren Zellen. Zwei Welten stießen auf engstem Raum aufeinander. Doch die Außenwelt sah über das Geschehen hinter den Mauern hinweg. Die Verdrängung des Geschehens in dem Arbeitserziehungslager funktionierte so gut, dass es bis 1979 kein öffentliches Thema war.
Deshalb war die Klosterkirche ein idealer Ort für die erste öffentliche Vorstellung des Buches „Mein verwundetes Herz“, das von der jüdischen Ärztin Lilli Jahn erzählt, die 1943/44 in einer dieser Zellen saß und die im Juni 1944 in Auschwitz unter nicht geklärten Umständen umkam. Die Kirche konnte gar nicht alle Besucher fassen , als am Dienstag Abend Martin Doerry, ein Enkel von Lilli Jahn und der Autor des Buches, sowie die Schauspielerinnen Sunnyi Melles und Andrea Wolf, vor 700 Zuhörern aus den herzzerreißenden Briefen lasen, die sich Lilli Jahn und ihre Kinder in der Breitenauer Zeit schrieben. Obwohl viele Besucher kein Platz fanden, herrschte eineinhalb Stunden lang atemlose Stille. Eingeladen hatte die Gedenkstätte Breitenau in Zusammenarbeit mit der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA), dem Hessischen Rundfunk und der Kasseler Buchhandlung Vaternahm.
Wir haben das Buch und das Schicksal von Lilli Jahn in unserer Zeitung ausführlich vorgestellt. Auch haben wir einige der Briefe im Wortlaut dokumentiert. Doch selbst für diejenigen, die den Briefwechsel schon kannten, wurde die Lesung zu einem ergreifenden Erlebnis: Lilli Jahn durchlebte nicht nur ein furchtbares Schicksal an uns vertrauten Orten, sie besaß auch die Gabe, ihren tiefen und schmerzerfüllten Empfindungen Ausdruck zu geben und immer wieder ihren fünf Kindern Mut zuzusprechen. Die Lesung führte zurück in diese schreckliche Zeit, die auf unglaubliche Weise von Liebe erfüllt war. Dank der Stimmen wurden Lilli Jahn und ihre Kinder mit ihren Gedanken lebendig. Martin Doerry trug die verbindenden Texte und die eher nüchternen Briefe des Sohnes Gerhard vor; Sunnyi Melles las die Briefe Lillis und Andrea Wolf die der Töchter.
Lilli Jahn besaß die bewundernswerte Gabe, sich in andere hineinzudenken und auch komplizierte Gefühlswelten zu durchschauen. Also fragt man sich unwillkürlich als Leser und Zuhörer, der um ihr Schicksal weiß, warum sie sich denn als junge Frau so sehr um diesen Ernst Jahn, ihren späteren Mann, bemühte, obwohl sie dessen Schwierigkeiten sah und obwohl sie 1925 prophetisch zu dieser Beziehung schrieb: „Irgendwie habe ich Angst“. Auch dies gehört zu ihrer Größe, dass sie zu ihrem Mann selbst dann noch stand, nachdem dieser sich von ihr hatte scheiden lassen und er offenbar nichts unternahm, um sie aus dem Lager frei zu bekommen.
„Es ist mir so weh ums Herz“, schreibt Lilli Jahn im Februar 1944. Monatelang hatten sie und ihre Kinder sich in Briefen gegenseitig mit der Hoffnung getröstet, bald wieder zusammen sein zu können. In Gedanken geht die Mutter alle Schritte mit, die ihre Kinder machen, und aus der Ferne muss sie miterleben, wie ihre Kinder in Kassel ausgebombt wurden und wie ihre 15-jährige Tochter Ilse in die Mutterrolle hineinwächst. Ihr letzter eigenhändiger Brief, den sie vom Transport nach Auschwitz schreibt, wird zu einem Testament.
Das Buch „Mein verwundetes Herz“ (DVA, 352 Seiten, 24.90 Euro) gesellt sich zu den herausragenden Werken , die die Zeit des Nationalsozialismus durch ein persönliches Schicksal anschaulich machen. Weitere Vorstellungen des Buches folgen am 5. November in Kassel, 12. November in Vellmar (Landkreis Kassel), 13. November in Marburg und 23. November in Immenhausen (Landkreis Kassel).

HNA 11. 9. 2002

Interview mit Martin Doerry zu seinem Buch „Mein verwundetes Herz“

Wann haben Sie zum ersten Mal erfahren, dass Ihre Großmutter Jüdin war?
Doerry: Ich war zehn oder elf Jahre alt. Irgendwie musste mir erklärt werden, warum ich auf der einen Seite der Familie keine Großmutter hatte.

Und wann wurde Ihnen die Zusammenhänge klar?
Doerry: Mit 15 wusste ich: Deine Großmutter ist in Auschwitz umgekommen, und deinen Großvater trifft eine furchtbare Mitschuld, denn er hat sich von ihr scheiden lassen. Es war seitdem für mich ein ungeheuerliches Rätsel, wie jemand sich von seiner Frau scheiden lassen kann, wenn er damit rechnen muss, dass sie umgebracht wird. Dieses Rätsel hat mich bis vor wenigen Jahren verfolgt. Das geringe Wissen und die Ungeheuerlichkeit waren wesentliche Motive für mich, dieses Buch zu machen. Ich habe dann im Zusammenhang mit der Lektüre dieser vielen Briefe mich mehr und mehr in dieses Thema hineingearbeitet.

Was haben Sie dabei herausgefunden?
Doerry: Mittlerweile gibt es eine Fülle sehr guter Detailuntersuchungen – auch zur Frage, wie die so genannten Mischehen im Dritten Reich existieren konnten. Die Erklärung im Fall meiner Großmutter ist, dass die Nazis offensichtlich meinem Großvater gesagt haben: deine Frau ist auch nach der Scheidung geschützt, weil sie sich um die minderjährigen Kinder kümmern müsse. Diese Regelung galt 1942. Aber, und hier beginnt das Unfassbare, mein Großvater ist von Freunden gewarnt worden. Die sagten: Das mag heute vielleicht gelten, aber niemand weiß, wie es morgen sein wird. Glaube nicht daran, die wollen euch auseinander bringen. Und danach ist deine Frau den Nazis ausgeliefert. Er hat sich aber gegen diesen Rat verhalten, weil er den Versprechungen der Nazis vertraut hat. Er war ein schwacher Mensch. Aber er ist kein Mörder.

War das üblich, dass in einem solchen Scheidungsfall die jüdische Mutter das Sorgerecht für die Kinder behielt?
Doerry: Ja, das war ein Restbestandteil des bürgerlichen Rechtes, den die Nazis nicht angetastet hatten.

Noch einmal zu den Bedingungen, unter denen Sie aufgewachsen sind. In Ihrer Jugend waren Ihre Großmutter und ihr Schicksal kein Thema. Selbst in einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung publizierten Kurzbiografie Ihres Onkels, des früheren Bundesjustizministers Gerhard Jahn, wird dessen Mutter nicht einmal erwähnt. Es ist, als wäre ihr Schicksal aus dem Gedächtnis getilgt…
Doerry: Ich kann Ihnen dazu eine ähnliche Geschichte erzählen: Als mein Onkel 1998 gestorben ist, habe ich schon in der Chefredaktion gesessen. Ein Kollege, der mit ihm viele Gespräche geführt hat, hat einen kleinen Nachruf geschrieben. Mit Verblüffung habe ich festgestellt, dass eine entscheidende Information nicht enthalten war – dass die Mutter meines Onkels in Auschwitz umgebracht worden ist. Das hat meinen Onkel sicherlich zeitlebens geprägt, aber das hat er nicht öffentlich gemacht. In den fünf Leitz-Ordnern über Gerhard Jahn im Spiegel-Archiv fand sich kein einziger Hinweis auf die Geschichte seiner Mutter.

Bedeutet das, dass die Verletzungen, die die Kinder von Lilli Jahn erlitten haben, so tief waren, dass sie nicht darüber reden konnten?
Doerry: Ja, die Verletzungen waren sehr tief. Wir streben immer nach Aufklärung und denken, wenn man darüber redet, geht es einem schon besser. Aber ich habe gelernt, dass man sich vielleicht in dieser Beziehung täuscht. Für mich war ein weiteres Motiv der Arbeit an diesem Buch, durch Aufklärung innerhalb der Familie eine Wunde endgültig zu schließen. Aber bei meiner Mutter und ihren Schwestern hat die Arbeit an dem Buch erst einmal die Wunden wieder aufgerissen, so dass ich es schon zwischenzeitlich bereut hatte.

Hatten die Töchter später noch mal Kontakt zu ihrem Vater und seiner Frau?
Doerry: Mein Großvater hat sich, als er 1946 aus der russischen Gefangenschaft zurückkam, sehr intensiv den Kindern aus erster Ehe zugewandt. Aber der Kontakt war naturgemäß schwer gestört.

Nun muss den frühen Briefen nach zu urteilen Ihr Großvater schon immer ein schwieriger Mensch gewesen sein – ein Mensch, der unter depressiven Zuständen gelitten hat und der Schwierigkeiten hatte, mit den Problemen fertig zu werden…
Doerry: Ja, er war entscheidungsschwach. Solche Menschen gibt es ja auch heutzutage, nur es hat nicht so schreckliche Auswirkungen. Er hat in die Ehe eingewilligt, aber wahrscheinlich hat schon damals ein Zweifel an ihm genagt, ob das die richtige Verbindung sei. Ich glaube aber nicht, dass mein Großvater an der Beziehung zweifelte, weil seine Frau Jüdin war.

Die Auseinandersetzung mit dem Schicksal Ihrer Großmutter begann also für Sie, nachdem durch den Nachlass Ihres Onkels 1998 die von ihm verwahrten Briefe der Kinder an Ihre Mutter in Breitenau zugänglich wurden?
Doerry: Das stimmt nicht ganz. Die ersten zehn Briefe sind schon 1988 in vier Exemplaren von Herrn Krause-Vilmar veröffentlicht worden. Dazu war es gekommen, weil meine Mutter Herrn Krause-Vilmar auf einer Reise kennen gelernt hatte. Aus diesen Briefen aus dem Lager Breitenau ist in Lesungen und Gottesdiensten immer wieder zitiert worden. Mein Onkel hat das zu unterbinden versucht. Er hielt die Briefe für eine rein private Angelegenheit. Als er starb, wurden in seinem Nachlass etwa 250 Briefe von ihm und seinen Schwestern an seine Mutter gefunden, die von September 1943 bis Februar 1944 nach Breitenau gegangen waren. Diese Kinderbriefe waren für mich ein wesentlicher Anstoß. Da fügte sich ein Briefwechsel zusammen, denn bis dahin kannte ich nur die Briefe von Lilli aus Breitenau. Daraufhin habe ich weiter gesucht und viele andere Briefe – auch aus der Brautzeit von Lilli – bekommen. Jede der Schwestern hatte Dokumente, die die anderen nicht kannten.

Die Briefe Ihrer Großmutter wären auch dann, wenn sie nicht dieses furchtbare Schicksal gehabt hätte, hoch interessant. Dieses klare Denken und feine Empfinden, dieses Hineindenken in andere – das zeugt von einer hohen Briefkultur.
Doerry: Diese Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken, zeichnete sie tatsächlich aus. Die Briefe gaben meiner Großmutter die Möglichkeit, über die Entfernung die Nähe herzustellen. Sie hat sich übrigens bei ihren Briefen an großen literarischen Vorbildern orientiert.

Haben Ihre Mutter und Tanten die frühen Orte ihrer Jugend später wieder aufgesucht?
Doerry: Meine Mutter hat Freunde in Kassel, die sie relativ häufig besucht. Auch sind meine Mutter und meine Tanten in Breitenau gewesen, als die Gedenkstätte neu eingerichtet wurde. Sie sind außerdem in Immenhausen gewesen, als die örtliche Grundschule in Lilli-Jahn-Schule umbenannt wurde. Immenhausen hat ja auch eine Straße nach meiner Großmutter benannt. Ich habe mit verschiedenen Lokalhistoriker in aus der Region zusammengearbeitet. Sie alle haben berichtet, dass sie noch in den frühen 90er-Jahren bei ihren Recherchen in Immenhausen auf Granit stießen. So gab es das Gerücht, meine Großmutter sei gar keine richtige Ärztin gewesen. Das ist ein Hinweis darauf, dass diejenigen, die das miterlebt hatten, von all dem nichts wissen wollten. Meine Großmutter war ja von dem Bürgermeister systematisch vertrieben worden. Erst die neue Generation konnte anders damit umgehen.

Gab es jenseits der eigenen Familiengeschichte noch Motive für die Arbeit an dem Buch?
Doerry: Ich habe in dem Stoff eine Möglichkeit gesehen, diese Geschichte, die alle schon zu kennen meinen, in einem neuen Detail zu erzählen. Ich glaube, dass die Menschen die Geschichte besser begreifen, wenn sie sich mit einzelnen Schicksalen identifizieren können.

Werden Sie sich mit dem Thema weiter beschäftigen?
Doerry: Ich sage immer scherzhaft, eigentlich wäre jetzt die andere Seite der Familie dran. Mein Vater und Großvater sind Flüchtlinge gewesen, die kamen aus Ostpreußen über Pommern ins Niedersächsische. Die haben eine typische Lebensgeschichte für eine ganze Generation. Man müsste sie erzählen, aber die Quellenlage ist zu schlecht.

HNA August 2002

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