Mehr Zeit für die Kunst

Die Documenta und ihr Zwang zum Besucherrekord

Was macht eine Ausstellung erfolgreich? Ist es die hohe Besucherzahl? Natürlich nicht. Das wäre ja noch schöner, wenn das Urteil davon abhinge, ob die Massen strömen oder ausbleiben, denkt man. Aber irgendwann kommt doch die Frage: „Und – wie viele Besucher hat die Documenta? Sind es mehr oder weniger als beim vorigen Mal?“ Nach dem etwas schleppenden Anfang im Juni fiel drei Monate später für viele die Antwort überraschend aus: Erneut schloss die Kasseler Ausstellung mit einem Rekord. Obwohl die Ausstellungsleitung nicht darauf hin arbeitete, scheint die Documenta zwanghaft immer das Ergebnis ihrer Vorgängerin überbieten zu müssen. Seit 1955 steigerte sich die Besucherzahl regelmäßig von 134 850 auf nun 650000. Jeder weiß, dass dieses Wachstum Grenzen haben muss. Vor allem in den letzten vier Wochen, in denen an Samstagen bis zu 15 700 Besucher gezählt wurden, war trotz größerer Flächen der Kunstgenuss fast nicht mehr möglich.
Wurde durch den Ansturm das Konzept des künstlerischen Leiters Okwui Enwezor bestätigt? Zu klären ist das kaum. Eher hilft da eine Besucherbefragung des Kasseler Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Gerd-Michael Hellstern weiter, der herausfand, dass rund 60 Prozent der angereisten Kunstfreunde schon mal mindestens in einer Documenta waren und dass ebenso viele in fünf Jahren nach Kassel wiederkommen wollen. Nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich ist die Documenta zur Institution geworden: Man schaut sie sich an, gleich, welche Konzepte sie serviert. Doch fördernd ist hinzugekommen, dass das Medienecho seit 1992 in unglaublicher Weise angewachsen ist. Allein „art“ hat dem Ereignis zwei Titelgeschichten und ein Sonderheft gewidmet. Mehrere Zeitungen und Rundfunk- sowie Fernsehsender hatten tägliche Documenta-Beiträge, und das internationale Echo ist kaum überschaubar.
Aber nicht nur die Besucherzahl ist größer geworden, sondern auch die Intensität der Auseinandersetzung. Mit einem lachenden und weinenden Auge sieht die Ausstellungsleitung, dass ihr Rat, zwei Tage für den Rundgang durch die fünf Ausstellungsorte einzuplanen, von 11,5 Prozent der Besucher befolgt wurde. Sie kauften die vergünstigte Zwei-Tages-Karte und ließen die Erlöse schrumpfen. Vor fünf Jahren hatte der Anteil noch bei 6,5 Prozent gelegen. Für die intensive Auseinandersetzung mit der Ausstellung, die mit Hilfe der Kunst die Fragen von Globalisierung, Gewalt und Vermischung der Kulturen spiegelte, spricht auch die Tatsache, dass sich jeder dritte Besucher einer Führung anschloss und jeder sechste einen Kurzführer erwarb.
Okwui Enwezor und sein Team wollten die von ihnen angestoßenen Diskussionen nicht auf die Zeit der Ausstellung beschränken.

18. 9. 2002

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