Es lebe die Differenz

Auf der Grünfläche des Friedrichsplatzes wurde heute Vormittag ein 3600 Kilo schwerer Eisenblock abgeladen. Der Block hat die Kantenlinien 710 x 710 x 985 Millimeter. Er wurde von der Holter Metallgießerei in Schloß Holte-Stutenbrock gegossen und hat bereits eine satte Rostfarbe angenommen.
Der im Jahre 2012 gegossene Block hat eine Stellvertreterfunktion. Er ist Platzhalter für den 4,6 Milliarden alten Meteoriten El Chaco, der vor rund 4000 Jahren in der nordargentinischen Provinz Chaco einschlug und der etwa das Zehnfache wiegt.

Das Künstler-Duo Guillermo Faivovich und Nicolas Goldberg erforscht mit künstlerischen Mitteln seit 2006 das nordargentinische Campo des Cielo (Feld des Himmels) auf das vor 4000 Jahren ein Meteoritenregen niederging. Vor zwei Jahren hatten die beiden Künstler den Meteoriten El Taco in den Portikus von Frankfurt gebracht. El Taco ist ein sprechender Beweis für den widersprüchlichen Umgang unserer Zeit mit den Meteoriten. Einerseits gab es zeitweise einen Wettlauf um das Aufspüren und um die Inbesitzname der Meteoriten. El Taco war so begehrt, dass in der Mitte aufgeschnitten und aufgeteilt wurde. Die eine Hälfte erhielt Argentinien, die andere ging in die USA. Nach der Teilung aber wurde El Taco fast vergessen, bis die beiden Kübstler die Spuren entdeckten und die beiden Hälften in Frankfurt für ein paar Wochen zusammenführten.

Die Frankfurter Ausstellung war ein Vorspiel zur dOCUMENTA (13). Der dazu erschienene Band verstand sich als erstes Künstlerbuch der kommenden documenta. Als ihren Beitrag zur dOCUMENTA (13) wollten Faivovich und Goldberg den Meteoriten El Chaco nach Kassel bringen wollen. Er ist um vieles größer als El Taco und gilt als der zweitgrößte Meteorit auf der Erde. Zahllose Gespräche mit Institutionen in Argentinien und möglichen Sponsoren mussten geführt werden, um den Transport des 37 Tonnen schweren Meteoriten nach Kassel zu ermöglichen. Im Januar diesen Jahres schien alles perfekt. Doch dann protestierten die Bewohner der Provinz Chaco gegen die Pläne.

Dieser Protest hatte seine eigene Qualität, weil durch die Wortmeldungen der Menschen, die sich mit dem Campo del Cielo historisch und kulturell verbunden fühlen, deutlich wurde, dass der Meteorit eben nicht nur ein massiv verdichteter Brocken aus Eisen ist, sondern als eine Art Himmelsbote verstanden wird, mit dessen Hilfe magische Kräfte aufgesprürt und Beziehungen zu fernen Epochen hergestellt werden können. Der Stein wurde damit zum ortsverbundenen Wesen, das man nicht einfach ausleihen kann.

Die Faszination, die die beiden Künstler schon immer empfunden hatten, gewann durch die Proteste greifbare Gestalt. Faivovich und Goldberg entschieden sich sofort (im Einvernehmen mit der documenta-Leitung) dafür, auf die Ausleihe zu verzichten – obwohl die politischen Gremien grünes Licht gegeben hatten. Nun mussten sie nach einer anderen Lösung suchen.

Ihnen kam dabei eine kriminalistische Anekdote zu Hilfe.

Der 1969 entdeckte Meteorit, der sich tief in die Erde eingebohrt hatte, musste erst einmal aus der Tiefe geborgen werden. Bei der Freilegung wurde 1972 der erste Versuch der wissenschaftlichen Erfassung unternommen. Das Gewicht wurde auf 18.000 Kilogramm geschätzt. Dabei hatte man die Dichte des Materials unterschätzt. Denn als der Meteorit 1980 nach Gancedo gebracht wurde, um dort gewogen zu werden, kam man auf ein Gewicht von 33.400 Kilo. Dann aber wurde 1990 versucht, El Chaco heimlich zu entführen. Der Transporter mit dem gestohlenen Meteoriten wurde aber von der Polizei entdeckt und nach 15 Kilometern aufgehalten. Der Kran, der den Meteoriten von dem Transporter herunterholte, zeigte ein Gewicht von 37.000 Tonnen an.

Diese Differenz hatte schon frühzeitig Faivovich und Goldberg in den Bann geschlagen. Nun, da sie auf den Meteoriten verzichten mussten, kam ihnen die Idee, die Differenz zu ihrem Thema zu machen. Der auf den Friedrichsplatz gebrachte Eisenblock repräsntiert nicht nur die Differenz zwischen den beiden Messungen, er vermittelt darüber hinaus eine Ahnung von der massiven Dichte und Größe des Meteoriten. Denn der Block mit seinem Gewicht von 3600 Kilo steht für ein Zehntel des Gesamtgewichts.

Faivovich und Goldberg haben mit der Wahl des Standortes auf dem Friedrichsplatz auch die Nähe zu Walter de Marias Erdkilometer gesucht. Denn für sie entsteht ein Dialog zwischen dem außerirdischen Meteoriten aus der Tiefe des Alls und dem Messingstab, der auf den Erdmittelpunkt zielt.

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