Es ist eine grandiose Idee: In der offenen Turmspitze der Elisabethkirche am Kasseler Friedrichsplatz balanciert auf einer goldenen Kugel eine menschliche Figur mit ausgebreitete Armen. Die bemalte Aluminiumskulptur von Stephan Balkenhol schwebt zwischen Himmel und Erde in so gelungener Weise, dass man meinen könnte, der viereckige, sich nach oben leicht verjüngende Turm sei für diese Arbeit geschaffen worden. Obwohl sich die Skulptur nicht aufdrängt und sich in den offenen Raum, dessen Dach von vier Pfeilern getragen wird, einfügt, triumphiert die Figur, fast noch mehr als die Borofsky-Arbeit „Man walking to the Sky“, die anlässlich der DOCUMENTA IX auf dem Friedrichsplatz aufgestellt worden war. Denn selbst von der Karlswiese aus sieht man die alles überragende Skulptur.
Selten hat eine Balkenhol-Arbeit an einem Ort so gut gepasst. Sie füllt nicht nur die offene Turmspitze auf bewundernswerte Weise aus, sondern sie verdoppelt auch das Kreuz, das auf dem Dach – ebenfalls auf einer goldenen Kugel – plaziert hat. Aber noch mehr: Die auf der Kugel stehende Figur mit den ausgebreiteten Armen wird zum Zeichen für die Weltkirche und Ökumene – Kreuz auf Kreis. Sie scheint den Umkreis zu segnen. Punktgenauer hätte das niemand planen können.
Trotzdem sorgt diese Arbeit für Unruhe und Streit. Das fing damit an, dass sich am Montag jemand besorgt bei der Feuerwehr mit dem Hilferuf meldete, ein offenbar Lebensmüder wolle vom Turm der Elisabethkirche springen. Die Feuerwehr konnte Entwarnung geben und aufklären, dass die Aluminiumskulptur eIn Beitrag zu einer Ausstellung der katholischen Elisabethkirche parallel zur documenta sei. Damit war nun die öffentliche Wahrnehmung der in aller Stille aufgestellten Skulptur hergestellt.
Und damit war die Leitung der dOCUMENTA (13) auf den Plan gerufen. Die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakagiev (CCB) fühlte sich überrumpelt und schockiert. Denn die kommende documenta findet nicht nur in den klassischen Ausstellungsräumen statt, sondern plaziert auch zahlreiche Projekte in der Karlsaue und im Stadtraum. Deshalb fordert die documenta-Leiterin den Abbau der Balkenhol-Arbeit, weil sie automatisch zum documenta-Konzept zugerechnet werde, zu der Ausstellung aber nicht passe. CCB erklärte ausdrücklich ihre Wertschätzung für Balkenhols Arbeit, sieht sich aber durch sie gestört.
Bei ihr kommt noch ein anderes Moment hinzu: Sie hat keinerlei Beziehung zu Kirche und Religion, noch mehr: sie ist eine kämpferische Atheistin. Daher muss es sie doppelt getroffen haben, dass Balkenhols Skulptur nicht nur die Weite des Friedrichsplatzes dominiert, sondern dass er mit dieser Arbeit die christliche Symbolik in gekonnter Weise aufnimmt. So kommt mit dieser Arbeit ästhetisch und inhaltlich eine Dimension ins Spiel, mit der CCB überhaupt nichts zu tun haben will.
documenta-Parallelausstellungen der Kirchen in Kassel gehören mittlerweile zur Tradition. Die erste Ausstellungen des evangelischen Kirchenbauinstituts („Abendmahl“, 1982, „Ecce Homo“, 1987, und „Liebe und Eros“, 1992) waren thematisch ausgerichtete Übersichtsschauen, die sich in der Alten Brüderkirche bewusst nicht in die Nähe oder gar Konkurrenz der documenta begaben. Spätere documenta-Begleitausstellunjgen der Protestanten (in der Martinskirche und Karlskirche) bewegten sich auf künstlerisch hohem Niveau, fanden aber die Duldung der documenta, weil sie (von einer Ausnahme abgesehen) auf das Innere der Kirchen beschränkt blieben.
Als voriges Jahr ruchbar wurde, dass die Evangelische Kirche für das documenta-Jahr 2012 den Künstler Gregor Schneider gewonnen habe, der eine Installation in und vor der Karlskirche schaffen wolle, legte die documenta Protest ein. Da die dOCUMENTA (13) mit mehreren Projekten auch im Umfeld der Karlskirche präsent sein werde, sei es schwer, zwischen documenta-Arbeiten und Werken von documenta-Parallel-Ausstellungen zu unterscheiden. Die Evangelische Kirche sah das ein und lenkte ein: Es wird dieses Jahr keine Parallel-Schau der Protestanten geben.
Anders die katholische Kirche. Sie wehrt sich gegen die Kritik. Die Verantwortlichen sagen auch, dass es nie eine Absprache mit der documenta gegeben habe, dass keine Kunstwerke im Außenbereich aufgestellt werden dürften. Möglicherweise sind sie auch der Ansicht, Balkenhols Arbeit sei gar keine Außenskulptur, da sie im Innern des Turms aufgestellt sei. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Verantwortlichen den Balance-Akt, den sie dieses Jahr probieren wollten, im Voraus genau durchgespielt hatten. Das Störmanöver ist kein Zufall. Die documenta aber muss Vorfahrt haben.
Die Kirche profitiert im Moment davon, dass die Argumentation der documenta einen Schwachpunkt hat. Wenn nämlich die documenta-Leiterin sagt, die menschliche Figur sei kein Thema ihrer Ausstellungen und deshald passe Balkenhols Werk nicht hinein, dann muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, die Figuren von Thomas Schütte auf dem Portikus von Sinn-Leffers dulde sie aber stillschweigend.
Stephan Balkenhol ist einer der führenden deutschen Bildhauer. Er ist in Fritzlar geboren (1957) und in Kassel aufgewachsen. Seine meist grob geschnitzten und farbig gefassten Skulpturen haben der menschlichen Figur wieder zu einem festen Platz in der deutschen Kunstszene verholfen. Balkenhol hätte gut in das Konzept der DOCUMENTA IX gepasst. Er ist aber bisher zu keiner documenta eingeladen worden. Durch seine den Friedrichsplatz überragende Figur erreicht er (gewollt oder ungewollt) genau das, was die documenta-Leitung befürchtet: Er wird vielen Besuchern als ein Künstler der documenta erscheinen.
Da Balkenhol den selben Mönchengladbacher Galeristen wie Gregor Schneider hat, meldeten sich nun auch der Galerist und Schneider empört und lauthals zu Wort. Die Absage des Karlskirchenprojekts war niemals öffentlich geworden. Jetzt aber holen das beide nach. Von Kunstdiktatur ist die Rede und von einer intoleranten documenta.
Wenn es den Kirchen wirklich nur um die Möglichkeit ginge, zeitgenössische Kunst im Stadtraum zu zeigen, hätten sie 2011 ebenso Gelegenheit gehabt wie 2013, 2014 oder… Nur: Den Kirchen geht es ja gerade darum, auf den publikumswirksamen documenta-Zug aufzuspringen. In den anderen Jahren hätten sie keine Intentionen und keine Sondermittel gehabt. Aber genau dies einzugestehen, fällt schwer.
9. 5. 2012