Ortsbestimmung – Zwölf Annäherungen an eine Stadt

Die Treppenstraße. Im Büro des Teams von Catherine David, das die documenta X des Jahres 1997 vorbereitete, hing die Reproduktion eines Fotos aus dem Jahre 1953. Auf ihm war die im Bau befindliche Treppenstraße zu sehen, die im folgenden Jahrzehnt bundesweit als ein Musterbeispiel einer neuartigen Fußgängerstraße gefeiert wurde. Ihre mehrstufige Gliederung mit den Absätzen und Zwischenebenen lehnte sich an das große Vorbild oberhalb der Stadt, an die Kaskaden im Bergpark Wilhelmshöhe, an. Das Foto, an dem sich das documenta-Team orientierte, hatte etwas Absurdes, denn es zeigte die Treppenstraße als eine Anlage im städtischen Niemandsland. Noch fehlte jeder Ansatz von Randbebauung, die der Treppenstraße ihr 50er-Jahre-Gepräge gab.
Das Foto ist das Dokument einer historischen Zäsur. An ihm ist abzulesen, wie radikal die Zerstörung der Kasseler Innenstadt in der Bombennacht des 22. Oktober 1943 war. Es verrät auch den Geist, nach dem sich der Wiederaufbau vollzog: Unabhängig von den historischen Grundrissen und Straßenverläufen wurden die Achsen neu gezogen, an deren Rändern dann die Bauten entstehen sollten. Aber das Bild der unbebauten Treppenstraße ist auch ein Dokument der Zuversicht, ein Bekenntnis zum Neuanfang.
Das Gedenken an die über 10000 Bombenopfer und die in Trümmern versunkene Stadt ist seit Kriegsende in Kassel ein festes Ritual. Aber es scheint so, als wären die Dimensionen des Verlustes erst 60 Jahre nach dem Flächenbrand richtig erfasst worden. Denn zu keiner Zeit zuvor waren die Augenzeugenberichte so vielstimmig gesammelt und vorgetragen worden wie im Jahre 2003. Allerdings verstärkte die intensive Rückwendung die Verklärung dessen, was an Gebäuden, Plätzen und Straßen insbesondere in der Altstadt und Oberneustadt zerstört worden ist. Dabei mischt sich regelmäßig in den Schmerz, den die Kriegszerstörungen verursacht haben, die Wut über das, was nach dem Krieg abgerissen und ausradiert wurde. So gehört es zum Repertoire der Klagereden, dass das am Auehang erbaute wilhelminische Theater nach dem Krieg sehr gut hätte wiederaufgebaut werden können. Und da nun das Land Hessen und die Stadt vor der Aufgabe stehen, den 1959 vollendeten Neubau des Staatstheaters sanieren zu müssen, bekommen die Klagen neue Nahrung. Denn zu der irrationalen Sehnsucht nach der alten Form kommt der Ärger darüber, dass in den 50er-Jahren nicht der preisgekrönte Entwurf von Hans Scharoun realisiert wurde, sondern der von Paul Bode entworfene Theaterbau, der nicht annähernd die gleiche architektonische Qualität hat.
Man braucht sich nichts vor zu machen: Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg wurden nicht nur Gebäude, die den Krieg überstanden hatten, mit Blick auf neue Verkehrsachsen abgerissen. An mancher Stelle wollte man in republikanischer Klarheit auch einen Schlussstrich unter die preußisch-wilhelminische sowie landgräflich-fürstliche Epochen ziehen. Also entsorgte man Gebäude auch dann, wenn sie sanierungsfähig gewesen wären.
Kassel war eine schöne Stadt – mit stolzen städtischen Fachwerkhäusern, mit herrschaftlichen Palais-Bauten und mit der planmäßig angelegten, barocken Oberneustadt. Die städtische Geborgenheit und die Großzügigkeit der Plätze lassen rückblickend das Gefühl einer Urbanität entstehen, das nach Einschätzung vieler Bürger die Nachkriegsstadt nie vermitteln kann. Darin steckt ein Stück Ungerechtigkeit, weil die neu entstandene Innenstadt wie ein Provisorium eingestuft wird, das über keinerlei Qualität verfügt. Das ist falsch. Daher wirkte der Optimismus, einen Neuanfang zu wagen, der auch aus dem historischen Treppenstraßen-Foto spricht, nicht ansteckend. Auf diese Weise machen es sich viele Kasseler selbst schwer, wenn sie ihr Verhältnis zur gebauten Stadt bestimmen wollen.

Der Ständeplatz. Die Treppenstraße ist eine der nach dem Krieg neu gezogenen Achsen. Sie verbindet den Friedrichsplatz mit dem Ständeplatz/Scheidemannplatz und in der Verlängerung mit dem Hauptbahnhof. Versucht man, eine Idee von dem neuen Kassel, von der Stadt der 50er-Jahre-Architektur, zu gewinnen, dann bildet dafür der Ständeplatz den idealen Ausgangspunkt. Sieht man von einigen späteren Umbauten ab, dann entwickelt sich auf der Ostseite des Platzes eine bilderbuchartige Reihe von Bauten im Stil dieser Zeit. (Auf weiten Strecken der Treppenstraße setzt sich diese dichte Abfolge fort.)
Es war ein glückliches Zusammentreffen, dass 1992 das Stadtmuseum am Ständeplatz in einer Ausstellung an das documenta-Jahr 1955 und den Wiederaufbau Kassels erinnerte. Denn der Belgier Jan Hoet hatte für seine im Sommer 1992 laufende documenta IX das gläserne Treppenhaus des 1957 von Konrad Proll erbauten AOK-Hauses zum Gelenk seiner Ausstellung erklärt, weil man aus dem Treppenhaus den gesamten Ausstellungsbereich zwischen Friedrichsplatz, Karlsaue und Schöner Aussicht überblicken konnte. Die Liebeserklärungen des Belgiers an diese klare und leichte Architektur, in der die Sprache des Bauhauses nachklingt, verführte viele Besucher dazu, sich ebenfalls für diesen Geist der Moderne zu begeistern. Die (unsichtbare) Klanginstallation von Max Neuhaus, die damals im Treppenhaus eingebaut wurde und bis heute erhalten blieb, beflügelt unmerklich die Gedanken, auch wenn sie sich am Rande der Wahrnehmbarkeit bewegt.
Innerlich widerstrebt es einem, an einen Platz zu denken, wenn man vom Ständeplatz spricht. Aus der Fußgängersicht ist es überhaupt kein Platz, sondern eine üppig breite Straße, an deren Rändern sich die Menschen auf Bürgersteigen bewegen. Es handelt sich um ein lang gestrecktes, schmales Rechteck, das vom Gleiskörper der Straßenbahn, zwei mehrspurigen Fahrbahnen, einer Anlieferstraße sowie Parkstreifen durchzogen wird. Es ist das Musterbild eines Beitrages zur autogerechten Stadt.
Mit Sicherheit waren die Verkehrsplaner der 50er-Jahre weitsichtig, als sie um den Kern der Innenstadt ein Ringstraßensystem mit großzügigen Kreuzungen legten, das 50 Jahre später noch in der Lage ist, den inzwischen um ein Vielfaches angewachsenen Autoverkehr zu bewältigen. Der Ständeplatz wurde zu einem wichtigen Glied dieses Systems und musste daher seinen Platz-Charakter preisgeben. Der Fehler der Verkehrsplaner bestand allerdings darin, dass sie den Ring so eng zogen, dass sie Kernbereiche der Innenstadt abschnitten und den historischen Friedrichsplatz gar zerteilten. Die Fußgänger wurden weggedacht oder in öde Tunnel unter den Kreuzungen geschickt. Nur nach vergeblichen Anläufen gelang es, am Ständeplatz etwa die Fahrbahnen so zu verengen, dass in Verbindung mit einer zusätzlichen Haltestelle ein überschaubarer Übergang von der Wilhelmstraße zum Stadtmuseum geschaffen werden konnte.
Das Jahr 1945, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und die nationalsozialistische Diktatur zusammenbrach, wurde gern als die Stunde Null bezeichnet. Trotzdem erlebte Kassel planerisch keine Stunde Null, weil die Straßendurchbrüche, die in den 50er-Jahren unabhängig von alten Grundstücksgrenzen und erhaltenen Kellern durchgesetzt wurden, bereits während des Krieges angedacht worden waren. Kassel mit seiner für die Rüstung so wichtigen Industrie (Lokomotiven, Lastwagen, Panzer) hatten die Nationalsozialisten zu einer Gauhauptstadt ausbauen wollen. Die breite, zweigeteilte Fahrbahn, die vor dem Bundessozialgericht von der Wilhelmshöher Allee abgeht und dann wie fast im Nichts endet, gibt eine Vorstellung von den Schneisen, die durch Kassel geschlagen werden sollten. Doch die Ausbaupläne blieben Visionen. Sie boten sich aber als Grundlagen an, nachdem am 22. Oktober 1943 Kassels Zentrum zerstört worden war.
Der Flächenbrand hatte die Nationalsozialisten keineswegs demoralisiert. Im Gegenteil, dem zerstörten Kassel wurde der Status einer „Wiederaufbaustadt des Führers“ zuteil, und noch in den letzten zwei Kriegsjahren begannen die Planungen für den Neuaufbau. Dabei steuerten mehrere Architekten und Planer Ideen und Entwürfe bei, die, wie der spätere Leiter des Stadtplanungsamtes, Werner Hasper, auch nach Kriegsende wesentlich an den Planungen beteiligt waren. Damit soll nicht gesagt werden, dass das neue Kassel im Sinne des nationalsozialistischen Gedankengutes geformt wurde. Aber das totalitäre Denken, das sich über gegebene Straßenzüge und Grundstücksverläufe großzügig hinwegsetzte und in der Lage war, die städtischen Strukturen unabhängig von der Geschichte neu zu entwickeln, war bei den Arbeiten für die „Wiederaufbaustadt des Führers“ angelegt worden.
Wesentliche Beiträge zur Aufarbeitung dieser Fragen und zur Erinnerungsarbeit generell hat das 1979 gegründete Stadtmuseum geleistet, das in den drei Etagen des Kulturhauses am Ständeplatz seine Heimat fand. Dass sich das Museum aus dem Nichts zu einer großartigen Dokumentation der tausendjährigen Stadtgeschichte entwickelte, ist nicht nur das Verdienst des umtriebigen und hartnäckigen Museumsleiters Karl-Hermann Wegner und seines Unterstützerkreises. Das Museum ist zugleich das Produkt einer Bürgerinitiative, die Menschen aus unterschiedlichsten Schichten verbindet und auch eine Brücke aus der Bürgerschaft zur Universität Kassel. Der so oft beklagte Identitätsverlust der Kasseler ist für den Verein der Freunde des Stadtmuseums kein Thema.
Der Friedrichsplatz. Nähert man sich auf der Autobahn Hannover-Frankfurt der Stadt, dann gibt es, egal ob man von Norden oder Süden kommt, Punkte, an denen Kassel einem zu Füßen liegt. Man blickt hinunter in das von der Fulda durchzogene Tal, in dessen weiter Ebene sich die Stadt breit macht und groß wirkt, und in dem die Bebauung auch die Hänge des vom Herkules bekrönten Habichtswaldes hoch wächst. Steht man dann im Zentrum der Stadt, auf dem Friedrichsplatz, dann stellt sich wie von selbst der Rückbezug her. Man steht wie auf einer offenen Bühne, die auf drei Seiten von Gebäuden eingeschlossen ist und sich nach Osten der Landschaft und den am Horizont begrenzenden Bergen der Söhre öffnet. Es ist, als verliere sich die Stadt in ihrem Bekenntnis zur sie umgebenden Natur, zumal der unterhalb liegende Park Karlsaue erst dann erkennbar ist, wenn man an der östlichen Platzkante steht.
Eine vor- oder nachgeschobene Begründung für den Abriss des preußischen Theaters hieß, man habe der Stadt ihren Blick auf die Umgebung wiedergeben wollen. Ein etwas fadenscheiniges Argument, da doch die Schöne Aussicht, die am Auehang vom Friedrichsplatz aus zum Brüder Grimm-Museum im Palais Bellevue und zur Neuen Galerie führt, genügend Ausblicke bietet. Der 1977 zur documenta 6 errichtete Rahmenbau der Künstlergruppe Haus Rucker-Co, der unmittelbar am Hang zur Aue platziert wurde, ist eine in Form gegossene Einladung, den Blick in die Weite bewusst zu genießen.
Es gibt Tage und Wochen, an denen der Friedrichsplatz leer und verloren wirkt. Dann sieht man nur das diagonale Wegenetz durch die Rasenflächen und jene Verkehrsachse, die als Teil der Ringstraße den Platz brutal zerschneidet. Überwunden ist allerdings die Zeit, in der (Anfang der 70er-Jahre) Mütter mit ihren Kindern auf dem Platz demonstrierten, um ihn als städtischen Frei- und Spielraum zurückzugewinnen. Mittlerweile ist das Betreten des Rasens nicht mehr verboten. Jetzt werden hier wieder wie in alter Zeit gelegentlich Zirkuszelte aufgeschlagen oder Musikbühnen zum Stadtfest errichtet.
Im allgemeinen Bewusstsein hat sich der Friedrichsplatz aber als quirliges Zentrum der Kunstwelt eingeprägt. Es sind die unauslöschlichen Bilder von Außenskulpturen, Künstler-Aktionen und sich jeden Tag neu formenden Warteschlangen, die sich vom klassizistischen Portikus des Museums Fridericianum über den Platz erstrecken, oder von Besuchergruppen, die mit dem documenta-Führer in der Hand auf der Wiese lagern. Alle fünf Jahre, wenn Kassel zur documenta einlädt, entsteht in gleicher und sich doch wandelnder Weise ein faszinierendes Szenarium. Der Friedrichsplatz ist Vorfeld oder gar Teil der Ausstellung. Nicht umsonst verfügt dann die documenta-Leitung über ein Hausrecht auf dem Platz.
Keine andere Stadt der Welt ist durch eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst dermaßen stark geprägt und bekannt geworden wie Kassel durch die documenta. Die documenta ist heute eine Selbstverständlichkeit, eine feste Adresse im internationalen Kunstkalender und eine routiniert arbeitende Institution. Seit dem 3. Dezember 2003 steht fest, dass der in Wien lebende Kurator Roger M. Buergel die documenta 12 (2007) leiten wird. Bei seinen Vorbereitungen kann er sich auf eine funktionierende Geschäftsführung und das documenta Archiv stützen. Auch ist gewiss, dass ihm neben dem Fridericianum, das seit 1955 das Stammhaus der documenta ist, mindestens noch die 1992 erbaute documenta-Halle zur Verfügung stehen wird. Außerdem kann sich Buergel darauf verlassen, dass die Wirtschaft und die Politik die Ausstellung aktiv mittragen; schließlich nennt sich Kassel seit 1999 offiziell documenta-Stadt.
Von solchen Bedingungen hätte der Maler, Designer, Ausstellungsmacher und Kunst-Professor Arnold Bode (1900-1977) nie zu träumen gewagt. Er musste bis zuletzt darum kämpfen, dass die von ihm und einigen seiner Freunde erdachte Ausstellung überhaupt stattfand und zumindest provisorische Strukturen erhielt. Bode, der stets ungeduldig drängte, musste überrumpeln und auch drohen, um seiner Vision zum Durchbruch zu verhelfen. Was Bode da für die Kunst und vor allem für die Stadt geleistet hat, wurde von vielen erst nach seinem Tode erkannt. So, wie bis in die Mitte der 70er-Jahre nach jeder documenta die Büroräume der Geschäftsstelle wieder aufgelöst wurden, so wurde lange Zeit die documenta nicht als beständiger Faktor der Museumspolitik wahr genommen. Noch 1980, als das im Krieg zerstörte und danach nur provisorisch instandgesetzte Fridericianum endgültig ausgebaut wurde, dachte man vornehmlich an eine museale Nutzung. Erst als die größten Bausünden schon begangen waren – so wurde das schöne zentrale Treppenhaus herausgebrochen – entschied sich das Land Hessen, das Fridericianum dauerhaft für die documenta frei zu halten und in den Zwischenjahren dort zusammen mit der Stadt eine Kunsthalle einzurichten. Inzwischen gehört es zum Profil des Hauses, dass außerhalb der documenta die Kunsthalle und der Kunstverein zu Ausstellungen ins Fridericianum laden.
Die so oft gestellte Frage, warum ausgerechnet Kassel mit der documenta eine Weltkunstausstellung etablieren konnte, ist meist unzureichend beantwortet worden. Richtig ist, dass erst die Bundesgartenschau von 1955, die durch eine Ausstellung begleitet werden sollte, den Anlass und das Fundament bot. Genauso richtig ist, dass Kassels Vorpostenlage an der damaligen Zonengrenze ein zusätzliches Argument für die Förderung durch den Bund war. Ebenso trifft zu, dass Bodes Visionen, Energien und Inszenierungskunst, die räumlichen Bedingungen im Fridericianum und hervorragenden Leihgaben zu Garanten des Erfolgs wurden. Die meisten Erklärungsversuche vernachlässigen aber die Tatsache, dass Bodes Zuversicht, mit der documenta von 1955 eine Ausstellung schaffen zu können, die den Weg der Moderne bis zur Gegenwart aufzeichnet, in seiner eigenen Biografie begründet war. Bereits als junger Künstler hatte er mehrfach an Ausstellungen in der Kasseler Orangerie mitgewirkt, die von überregionaler Bedeutung waren. Als er 1929 mit seinem Kollegen Heinrich Dersch innerhalb einer solchen Ausstellung die „Neue Kunst“ verantwortete, da waren unter anderem die Werke von 17 deutschen Avantgarde-Künstlern zu sehen, die 16 Jahre später auch in der documenta vertreten sein sollten.
Zu einer wirklichen Ausstellung der Weltkunst ist die documenta erst in den 90er-Jahren herangereift. Zuvor war sie vom atlantischen Dialog, von der europäisch-amerikanischen Kunst (mit ein paar asiatischen Einsprengseln), bestimmt. Begonnen hatte sie als eine nahezu rein europäische Kunstschau. Aber die innere Spannung, die zu jeder documenta gehört – ob sie denn nun mehr für das Kunstpublikum der Welt oder für die Unterweisung der Massen gedacht sei -, wurde nie aufgehoben. Das kritische Potenzial der Aufklärung – allerdings ohne eine didaktische Belehrung – ist seit Bodes Zeiten einer der Grundsätze, unter denen jede neue documenta antritt.
Damit wirkt der Geist des Fridericianums bis in unsere Tage fort. Denn der von dem Hugenotten Simon Louis du Ry entworfene und bis 1779 vollendete Bau ist aus dem Geist der Aufklärung entstanden. Der hessische Landgraf Friedrich II. war zwar ein Fürst, der im Lande Soldaten ausheben ließ, um sie für gutes Geld im Dienste Englands gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Amerika kämpfen zu lassen, aber er war auch, angesteckt durch englische Vorbilder, von dem Gedanken beseelt, die von ihm und seinen Vorfahren gesammelten Schätze der Allgemeinheit zugänglich zu machen. So ist das Fridericianum auf dem europäischen Kontinent das erste für die Öffentlichkeit erbaute Museum, in dem die Bibliothek, das Handschriften- und Grafikkabinett, die Kunstkammer, die Antikensammlung, die naturwissenschaftlichen Studienobjekte, das astronomisch-physikalische Kabinett und die historischen Waffen ausgestellt worden. Das Museum orientierte sich an einem enzyklopädischen Denken, das auf das Erklären und Verstehen der Welt ausgerichtet war. Allein die kostbare Gemäldesammlung, die um 1750 von Wilhelm VIII. zielstrebig ausgebaut worden war, blieb in dem Galeriebau innerhalb des Stadtpalais.
Friedrich II. war es auch gewesen, der 1777 die Kunstakademie – mit dem Hofmaler Johann Heinrich Tischbein d. Ä. als erstem Direktor – gegründet hatte. Bei Arnold Bode schließt sich der Kreis: er war erst Student und später Professor an dieser Akademie und ihrer Nachfolgeeinrichtung, die heute als teilautonome Kunsthochschule ein Glied der Universität Kassel ist. Ohne den fruchtbaren Boden der Akademie hätte Bode in den 50er- und 60er-Jahren nicht über die Ressourcen für die documenta-Planungen verfügt. Allerdings riss mit Bodes Tod die gewachsene Verbindung von Akademie und documenta.
Der Kulturbahnhof. Über die Treppenstraße zum Hauptbahnhof braucht man vom Friedrichsplatz aus nur ein paar Minuten. Es war ja der Sinn des Treppenstraßenbaus, dass den mit der Eisenbahn ankommenden Besuchern ein verlockendes Entree in die Innenstadt angeboten werden sollte. Schlendernd und flanierend sollten die Besucher den Treppen folgen, wobei sie der weite Blick auf den Friedrichsplatz und die sich dahinter öffnende Landschaft anlocken sollten. Aber die Planer hatten nicht bedacht, dass mit der zunehmenden Motorisierung der als Verkehrszentrum gedachte Hauptbahnhof seine Funktion verlieren würde, zumal die umständlichen Strecken Bahnfahrten aus jeder Richtung unattraktiv machten. Erst mit der Eröffnung der ICE-Strecke Hannover-Fulda und des neuen Fernbahnhofs in Wilhelmshöhe wurde die Stadt in Nord-, Ost- und Süd-Richtung aus ihrer Abseitslage befreit.
Der Gewinn von Wilhelmshöhe war ein Verlust für die Innenstadt und den Hauptbahnhof. Der auf den Regionalverkehr zurecht gestutzte Bahnhof hätte weitgehend geschlossen werden können. Auf einmal passte nichts mehr. Die wie ein U-Bahnhof unterirdisch angelegte Haltestelle der Straßenbahn unter dem Bahnhofsvorplatz verödete. Und mit aller Deutlichkeit spürte man, dass die Fußgängerachse Treppenstraße-Hauptbahnhof kaum funktionierte, weil die Kreuzung des Scheidemannplatzes als Teil des Ringstraßensystems trotz der Unterführung eine Bruchstelle bildet. Selbst Catherine Davids Versuch, diese Wegstrecke als einen Teil des documenta-Parcours 1997 zu etablieren, funktionierte nur den einen Sommer und hatte keine bleibenden Folgen. Zu stark bricht das innerstädtische Gefüge jenseits der Kreuzung ab. Wer da nicht lang laufen muss, vermeidet den Weg.
Darüber kann auch die in den Himmel ragende Skulptur „Man walking to the Sky“ von dem Amerikaner Jonathan Borofsky vor dem Hauptbahnhof nicht hinwegtäuschen. Der zielstrebig auf einem Rohr aufwärts schreitende Mann wird gern als hoffnungsvolle Figur, als Himmelsstürmer, verstanden. Borofsky aber war, als er die Skulptur zur documenta 1992 schuf, nicht so entschieden. Er sieht den Mann genau zwischen Aufstieg und Absturz.
Die allzu spät erfolgte Randbebauung hat die Anziehungskraft des Bahnhofsvorplatzes für das städtische Leben nicht gerade vergrößert. Auf der einen Seite steht das Haus der Wirtschaft, das dem Platz immerhin zu einer architektonischen Fassung verhilft, auf der anderen Seite wurden unterhalb des Platzes zwei Großbauten errichtet, die aus der Nähe wie Festungen wirken und eher notwendig als im Sinne des Stadtlebens attraktiv sind – das Polizeipräsidium und das hoch aufragende Arbeitsamt. Das Arbeitsamt wirkt wie eine ständige Mahnung, denn die Stadt hat seit vielen Jahren mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote zu kämpfen. Während Hessen 2001 im Landesschnitt eine Arbeitslosenquote von 6,5 Prozent meldete, waren in Kassel mehr als zweimal so viele Arbeitssuchende (14 Prozent) registriert. Außerdem zählt Kassel zu den Städten, die die höchsten Sozialhilfeempfängerquoten (rund 10 Prozent) verbuchen. Der permanente Rückgang der industriellen Produktion, Firmen-Übernahmen und die Verlagerung von Unternehmenssitzen konnten durch Neuansiedlungen nicht annähernd ausgeglichen werden. Und so gehört es zur widersprüchlichen Situation der Stadt, dass weder die Panzerproduktionen noch die Transrapid-Technologie von allen geliebt werden, dass aber alle darum bangen, wenn dort die Aufträge und damit die Arbeitsplätze in Frage stehen.
Es war keineswegs nur die 40jährige Nähe zur Zonengrenze, die Kassel benachteiligte. Trotz verbesserter Verkehrsanschlüsse bleibt Kassel die Randlage erhalten, denn im Vier-Länder-Eck von Hessen, Thüringen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen stoßen lauter Randbereiche aneinander. Trotzdem ist die Tendenz nicht mehr hoffnungslos: Seit 1998 sank die Arbeitslosenquote beziehungsweise stieg weniger stark an als im ganzen Land.
Wenn der Hauptbahnhof und die vor ihm aufragende Borofsky-Skulptur trotzdem zu Hoffnungszeichen wurden, hat das die Stadt einem Glücksumstand zu verdanken. Denn als sich die Bahn als Unternehmen neu aufstellte und daran ging, ihre Bahnhöfe als Zentren städtischen Lebens aufzupolieren, war sie in Kassel zu einer großen Investition bereit. Der alte Hauptbahnhof, der nach der Eröffnung von Wilhelmshöhe aufs Abstellgleis versetzt schien, wurde modellhaft zum Kulturbahnhof umgestaltet. Das Experiment glückte, auch wenn es immer gefährdet ist.
Durch die wunderbare Verwandlung des Hauptbahnhofs wurde der im Abseits liegende Ort wieder ein Ziel für Menschen, die man sonst bei Ausstellungseröffnungen oder im Theater trifft, aber ebenso für junge Leute, die sich für Videos oder die Disko begeistern. Vor allem die Initiative des Teams, das in der Goethestraße seit 1980 den Filmladen als Programmkino betreibt, das alte Bahnhofskino Bali, das zum Sexkino heruntergekommen war, für den niveauvollen Unterhaltungsfilm und das Kunstkino wiederzubeleben, wurde zum Rückhalt für das Gesamtkonzept. Heute ist das Bali mit seinen zwei Sälen eine feste Adresse für das anspruchsvollere Kinopublikum. Es konnte sich sogar behaupten, nachdem sich im Zentrum mit dem Ufa-Palast und dem Capitol gleich zwei Multiplexkinos etabliert hatten. Ja, dem Filmladen-Team gelang es sogar, in dem von der Schließung bedrohten 50er-Jahre-Kino Gloria am Ständeplatz eine weitere Spielstätte für den qualitätsvollen Kommerzfilm zu eröffnen.
Die beste Anerkennung für diese Filmarbeit wurde dem Bali zuteil, als es sowohl 1997 als 2002 von der jeweiligen documenta-Leitung zur Zusammenarbeit eingeladen wurde. Mittlerweile sind die Kinosäle im Kulturbahnhof internationale Adresse, denn das seit 20 Jahren veranstaltete Dokumentarfilm- und Videofestival konnte sich an diesem Ort zu einem echten Festival mit wichtigen Wettbewerbsbeiträgen profilieren. Gleich nebenan residiert mit seinen Studio-Räumen der Offene Kanal, der gelegentlich – so wie bei den beiden jüngsten documenta-Ausstellungen – mit beachtlichen kulturellen Beiträgen als das Ortsfernsehen für jedermann aufwartet.
Eine weitere große Stütze der Kulturarbeit im Bahnhof ist die Caricatura als eine Galerie für komische Kunst. Seit die Caricatura 1987, parallel zur documenta 8, erstmals mit einer Ausstellung deutscher Cartoonisten an die Öffentlichkeit trat, ist Kassel neben Hannover ein Zentrum für die Karikatur und komische Kunst. Noch bevor im November 1995 die Galerie als fester Sitz im Kulturbahnhof eröffnet werden konnte, machte die Caricatura durch zahlreiche hervorragende Ausstellungen auf sich aufmerksam. Jetzt, da sie über einen festen Veranstaltungsort (und eine Dependance in Frankfurt) verfügt, gehören auch Kabarett-Vorführungen, Lesungen und Diskussionen mit zum Programm. Der wichtigste Schritt in der Weiterentwicklung des Konzepts war die Öffnung zur Literatur, denn so konnte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Stiftung Brückner-Kühner entfalten, die von dem Schriftstellerpaar Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner gegründet wurde und der Kassel seit 1985 die jährliche Vergabe des Literaturpreises für grotesken Humor verdankt.
Zweimal waren die Räume im Südflügel des Kulturbahnhofs Spielort der documenta. Aber auch zwischendurch boten sich diese Flächen in idealer Weise für Ausstellungen an – etwa zum jährlichen Künstlerfest oder begleitend zum Dokumentarfilm- und Videofest. Doch wissen alle, dass es auf Dauer schwer sein wird, diese Räume nur für gelegentliche Ausstellungen frei zu halten. Immerhin haben sich im Bahnhofsbereich zwei andere kleine Ausstellungsforen etablieren können. Das Stellwerk ist zu einer Experimentierbühne der Kunsthochschulstudenten geworden. Und gleich nebenan ist auf Initiative des Bundes Deutscher Architekten (BDA) das Kasseler Architekturzentrum (KAZ) entstanden, das mit Ausstellungen, Vorträgen und Diskussionen Beiträge zur Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Architektur aufwartet. Das KAZ profitiert dabei von dem Qualitätsanspruch der BDA-Gruppe ebenso wie von der Tatsache, dass innerhalb der Universität Kassel die Architektur sowie die Stadt- und Landschaftsplanung einen hohen Stellenwert genießen.
Schon mehrfach ist die Idee vorgetragen worden, den alten Hauptbahnhof, dessen Gleise und Bahnsteige nur noch teilweise genutzt werden, zum Sitz eines Verkehrs- und Technikmuseums zu machen. Aus finanzieller Sicht erscheinen solche Vorschläge derzeit illusorisch, aber inhaltlich sind sie begründet, da Kassel seit Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland ein Entwicklungs- und Produktionsstandort für Eisenbahnzüge, insbesondere Lokomotiven ist. Bis heute ist die Stadt eine Schmiede von Lokomotiven geblieben, auch wenn der einst glanzvolle Name Henschel unterging. Selbst noch die ICE- und Transrapidzüge haben Kasseler Wurzeln. Außerdem kommen nun auch für die neuen Verbundzüge, -straßenbahnen und –busse die Faltenbälge aus dieser für den Eisenbahnbau bedeutenden Stadt.
Das Gießhaus. Ihr Wachstum und ihre Größe verdankt die Stadt der Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hatte sie sich über Jahrhunderte nur allmählich vergrößert und um 1800 gerade die Einwohnerzahl von rund 20000 erreicht, schnellte bis 1900 die Zahl der in Kassel lebenden Menschen auf über 100000 hoch. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges sollten es (durch Eingemeindungen) gar 216 000 Einwohner werden – der absolute Höhepunkt in der Stadtgeschichte. Ja, nachdem die wiederaufgebaute Stadt als Wohnort wieder attraktiv geworden und die Bewohner zurückgeholt oder neu angeworben werden konnten, setzte nach 1970 eine Abwanderungsbewegung ein, von der vor allem das Umland mit seinen günstigeren Quadratmeterpreisen profitierte. Möglicherweise wäre die Bevölkerungszahl schon unter die 180000 gesunken, hätte die Maueröffnung von 1989 nicht für eine vorübergehende Wende gesorgt. In den letzten Jahren hat sich die Einwohnerzahl bei 194000 eingependelt, wobei überraschender Weise der Ausländerteil um knapp 20 Prozent (von 30075 auf 24732) zurückgegangen ist.
Zahlreiche Industriebetriebe, die zum Aufstieg Kassels beigetragen haben, wurden aufgegeben, andere verlagerten ihre Produktionsbereiche in die Außenbereiche der Stadt. Dadurch entstanden im Norden und Osten der Stadt riesige Industriebrachen, die nur mühsam neu vergeben werden konnten. Zum Glücksfall allerdings wurde der Umbau des ehemaligen Henschelgeländes, das sich unmittelbar am Nordrand der Innenstadt befindet. Lange Zeit hatten die aufgegebenen roten Backsteinhallen eine geisterhafter Kulisse gebildet, bis man bei der Suche nach einem Standort der Universität auf eben dieses Gelände verfiel. Für die Stadtentwicklung war die Neugründung auf diesem Gelände ideal, für die Hochschule und die Architekten bedeutete sie eine Herausforderung.
Das Gros der Fabrikbauten verschwand. Trotzdem blieben einige Zeugen stehen. An erster Stelle ist als überragendes Zeichen der Schornstein des früheren Henschel-Heizwerkes zu nennen. Er erfüllt auch für die Uni einen Zweck – durch ihn wird die Abluft abgeleitet, die bei der Kälteerzeugung für das Hochschulrechenzentrum entsteht. Eine faszinierende ästhetische Lösung gelang bei der Errichtung des Instituts für Werkstoffkunde: der dunkle Glaskubus wurde in die stehen gebliebenen Mauern der Werkshalle K 13 hineingesetzt. Das schönste Zeugnis der alten Industriezeit ist das 1836/37 nach den Plänen von Carl-Anton Henschel erbaute Gießhaus mit seiner 13 Meter hohen Kuppel aus einem Röhrengewölbe. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts erregte der Rundbau Aufsehen. Eines der ersten großen Objekte, die in ihm gegossen wurden, war das Bonifatiusdenkmal für Fulda. Heute bildet er die gute Stube der Universität, in der Empfänge und Diskussion stattfinden und die für Konzerte genutzt wird. Obwohl das Gießhaus nicht das Herz der Universität ist, wurde es zum Symbol der Begegnung und des geistigen Austausches.
Am Holländischen Platz ist ein äußerst dichtes Hochschulzentrum herangewachsen. In dem in den 50er-Jahren errichteten Verwaltungsbau von Henschel sitzen heute unter anderem die Architektur-Professoren und –Studenten. Wenn sie aus dem Fenster blicken, dann können sie auf dem vor ihnen liegenden Campus die Vielfalt der Architekturstile studieren – von der Industriekultur über den Zweckbau und die Postmoderne bis hin zur zweiten Moderne.
Die als Reformuniversität 1971 gegründete Gesamthochschule wurde in ihren Anfangsjahren von den gegensätzlichen Erwartungen erdrückt. Sie sollte einen Bildungsschub in der nordhessischen Region bewirken und gleichzeitig ein neues Hochschulmodell erproben, von dem bald schon nur noch wenige Bildungspolitiker etwas wissen wollten. Außerdem musste sie bestehende Einrichtungen wie die Hochschule für bildende Künste (heute Kunsthochschule) an der Menzelstraße und die Ingenieurschule an der Wilhelmshöher Allee sowie die Ingenieurschule für Landbau in Witzenhausen integrieren.
Die Universität funktioniert – auch als wissenschaftlich-kritisches Korrektiv der Stadt. Auf vielen Feldern hat sie die Stadt als Labor genutzt und damit ihren Einrichtungen entschieden voran geholfen. Die Modellprojekte der Offenen Schule Waldau und der Reformschule wären ohne die Anstöße und Begleitung aus der Universität nicht denkbar. Ohne die Uni gäbe es in Kassel nicht das Institut für Solare Energieversorgungstechnik (Iset), das entscheidende Beiträge zur Entwicklung alternativer Energien geleistet hat. Aber auch kulturelle Einrichtungen wie der Filmladen, die Caricatura oder das Diskussions- und Begegnungszentrum Offenes Wohnzimmer in der Goethestraße sind indirekt Kinder der Reformhochschule.
Die Unterneustadt. Die Frage, ob Kassel Provinz sei, ist oft gestellt worden, war aber immer falsch. Denn wenn man Provinz mit geistiger Enge gleichsetzt, dann weiß jeder, der auch in anderen Städten gelebt hat, dass diese Enge überall zu erleben und zu erleiden sein kann. Trotzdem bekommt die Stadt häufig zu spüren, dass sie nicht Drehscheibe und Zentrum ist. Darunter leidet die städtische Öffentlichkeit dann, wenn prominente Professoren, die einem Ruf an die Universität Kassel folgen, dort auch gute und ernsthafte Arbeit leisten, ihre Büros, Labors oder Ateliers aber in Berlin, Hamburg oder München nicht aufgeben. Sie und ihre kritischen Beiträge werden oft genug in der öffentlichen Diskussion vermisst.
In einem Fall aber hat die Intervention von Professoren und Studenten in die innerstädtische Diskussion gut funktioniert: In einem intensiven Prozess haben Architekten und Stadtplaner die Suche nach einem überzeugenden Konzept für den Wiederaufbau der Unterneustadt mit getragen und begleitet. Das Stichwort von der kritischen Rekonstruktion wurde dabei zum Zauberwort, denn es war der Schlüssel dafür, dass weder im großen Stile geplant wurde noch ein Stadtteil aus einem Guss entstand. Vielmehr wurde ein Viertel nach zeitgemäßen planerischen und ästhetischen Maßstäben errichtet, das sich in seiner Dichte an den historischen Grundrissen orientierte. Die Unterneustadt war die wichtigste Wiedergeburt in den 90er-Jahren. Mit ihr wurde für das alltägliche Wohnen endlich die Fulda in die Stadt zurückgeholt; die neu über den Fluss geschlagene Fußgängerbrücke ist das verbindende Symbol dafür. Heute ist die Unterneustadt mit ihrer Mischung aus exklusiven Stadtvillen, Reihenhäusern und Mietwohnungen ein architektonisches Vorzeigequartier, das den Radius der Innenstadt erweitert hat.
Knapp 30 Jahre zuvor war eine andere Baugeschichte nicht so vorteilhaft verlaufen. Da hatten nämlich Architekten und Planer kritisiert, dass die Stadt ihr Modellvorhaben für neuen Wohn- und Siedlungsbau nicht zur Verdichtung des Zentrums nutzte, sondern an den Rand eines Landschaftsschutzgebietes, die Dönche, ging. Die Stadt hatte nach dem Tod von Arnold Bode den uralten Traum des documenta-Begründers aufgegriffen, um mit Bundes-Unterstützung parallel zur documenta 7 (1982) das Wohnprojekt einer documenta urbana zu realisieren. Bode, der immer Kunst in Beziehung zur Architektur setzen wollte, hatte an eine solche Form der Bauausstellung wohl kaum gedacht. Heute allerdings, da sich die Stadt auch in ganz andere Grenzbereiche ausgeweitet hat, sieht man eher das Gelungene an der Neugründung – die beispielhaften Formen des Eigenheimbaus und der grandiose Entwurf einer Wohnschlange, in der sich die unterschiedlichsten Bauformen miteinander verbinden.
Kassel bietet denjenigen, die städtischen Siedlungsbau studieren wollen, eine ganze Palette von Studienobjekten – die Rothenberg-Siedlung aus den 20er-Jahren, die Auefeld-Siedlung der unmittelbaren Nachkriegszeit, die documenta urbana, die Unterneustadt und die fast gleichzeitig auf einem Kasernengelände entstandene Marbachshöhe. Hinzu kommt noch am Gelände des Wasserturms die Öko-Siedlung, in der vor allem Familien aus dem Umkreis der Universität alternative Bau- und Wohnformen erprobten.
Der Schlachthof. Kassel ist eine Stadt mit einer reichen und vergleichsweise langjährigen alternativen Szene. Zu deren Aufblühen trugen in den 70er-Jahren die in der Stadt seit langem wirksame Waldorf-Gemeinde ebenso bei wie die Gründung der heutigen Universität, die sich als Reformhochschule mit kritischem Potenzial verstand.
Noch bevor sich die damalige Gesamthochschule am Holländischen Platz fest etabliert hatte, nahm in der Nordstadt im ausgedienten Schlachthof ein Kulturzentrum seine Arbeit auf. Seit 1978 ist es ein Markenzeichen soziokultureller Arbeit, in dem ansatzweise das gelingt, wovon viele träumen – Integration unterschiedlicher Nationalitäten, Kulturen und Schichten. Der Schlachthof liegt inmitten der Nordstadt, in der früher vornehmlich die Arbeiter von Henschel und anderer Industriebetriebe lebten. Heute wird das Bild des Stadtteils stark von den aus dem Ausland, vor allem aus der Türkei stammenden Familien geprägt. Auch dort fällt die Überwindung der kulturellen Schranken schwer. Doch wenn einmal im Jahr der Schlachthof zum Frühlingsfest lädt, dann hat man das Gefühl, dass es doch Räume gibt, in denen die multikulturelle Gesellschaft möglich ist. Und wenn der Schlachthof zum jährlichen Weltmusikfestival einlädt, dann wird auf hohem Niveau das gespiegelt, womit sich das Kulturzentrum Tag für Tag einsetzt – für einen Dialog der Kulturen nicht im Sinne einer Angleichung, sondern um in der Verschiedenheit das Gemeinsame zu suchen.
Immer wieder gefährdet und doch überlebensfähig ist die Kulturfabrik Salzmann im Osten der Stadt. Inmitten eines weitläufigen Gewerbegebiets hat sich in den alten Fabrikhallen ein Forum entwickelt, an dem sich junge Menschen zu Konzerten und Disco-Veranstaltungen treffen und an dem das Schüler- und Jugendtheater (Theater des Ostens) einen festen Ort gefunden hat. In den zum Teil großartigen Fabrikräumen haben sich auch Künstler und Architekten mit ihren Ateliers niedergelassen.
Das dritte Kulturzentrum ist das Dock 4, unmittelbar hinter dem Fridericianum in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule. In dem Haus ist das documenta Archiv mit der Artothek beheimatet, und dort residieren zeitweise die Leitung der Kunsthalle oder documenta. Als Kulturhaus hat das Dock 4 lange Zeit nach seiner besonderen Bestimmung gesucht. Es fand sie schließlich auf dem in Kassel hervorragend besetzten Feld des Figuren- sowie Kinder- und Jugendtheaters. Das Aktionstheater von Helga und Werner Zülch, Stefan Beckers Spielraumtheater, das Theater Laku Paka von Günter Staniewski und das Theater Knorzkopp (Marianne Schoppan und Anne Weindorf) haben sich bundesweit und sogar international durchgesetzt. Während das Dock 4 für das Figurentheater zu einer festen Spielstätte geworden ist, ist es für das Kinder- und Jugendtheater mehr symbolisch der Anlauf- und Heimatort. Der Erfolg hat die Bühnen weit über die Grenzen Nordhessens hinausgeführt. So war es selbstverständlich, dass sie auch auf der Expo in Hannover auftraten, als es galt, das Land Hessen zu repräsentieren.
Wie in den meisten Städten leisten die Vereine die größte Kinder- und Jugendarbeit. Daneben haben in Kassel auch eigenwillige Projekte ihren Platz gefunden – wie der alternative Kinder- und Familien-Circus Rambazotti in der Marbachshöhe. Genauso ist an die Angebote der Museumspädagogik zu denken, die regelmäßig parallel zur Weltkunstschau eine Kinder-documenta veranstaltet.
Das Ottoneum. Versuche, innerhalb des Staatstheaters das Kinder- und Jugendtheater, gar mit einer eigenen Bühne, fest zu etablieren, hatten bisher keinen langfristigen Erfolg. Es entwickelten sich vielversprechende Kooperationen mit den freien Bühnen, es gab auch einfallsreiche Jugendreferenten und gute Initiativen, um die Schüler an das Theater heranzuführen, aber auf die Dauer blieb es im Spielplan dabei, dass rund um die Weihnachtszeit im Staatstheater und in der kleinen privat geführten Komödie jeweils ein Stück für Kinder angeboten wird. Die so genannten Weihnachtsmärchen sind in der Regel Renner und sorgen für eine hohe Sitzplatzausnutzung. Aber sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das normale Theater für die jüngsten Besucher nur Trostpflaster bereithält. Der Traum von der vierten Sparte neben Oper, Schauspiel und Ballett ist ein solcher geblieben.
Kassel ist eine alte, eine traditionsreiche Theaterstadt. Gelegentlich gibt es Krisen, dann leeren sich schon mal die Ränge, aber der Theater- und Konzertbesuch gehört seit Generationen zum guten Selbstverständnis des Bürgertums. Dabei sind die entscheidenden Impulse, wie es sich für eine einstige Residenzstadt gehört, von den Fürsten ausgegangen. Und weil das fürstliche Erbe bis in die republikanischen Zeiten fortwirkt, befinden sich das Theater, die Schlösser und Parks sowie die historischen Kunstsammlungen nicht in städtischer Hand, sondern werden von der Landeshauptstadt Wiesbaden aus gesteuert. Beim Staatstheater allerdings sind die Verhältnisse etwas komplizierter, weil das Theater nur dem Namen nach rein staatlich ist. Immerhin steuert die Stadt 48 Prozent zum Etat bei und hat dementsprechend ein Mitspracherecht in allen Fragen.
Es ist eher ein Zufall als das Ergebnis einer historisch bedachten Regie, dass das heutige Staatstheater unmittelbar neben dem Ottoneum steht, das 1603-1606 im Stil der Weserrenaissance als der erste feste Theaterbau errichtet wurde. Rund 90 Jahre diente das Gebäude als Theaterspielort, bis es 1696 zum Kunsthaus umgebaut wurde, in dem die landgräflichen Sammlungen zusammengeführt wurden. Seit 1884 beherbergt es das Naturkundemuseum, dessen historischer Teil über etliche Glanzlichter verfügt – die Schildbachsche Holzbibliothek und das Skelett jenes Elefanten, an dem Goethe seine Studien zum Zwischenkieferknochen trieb.
Noch älter allerdings als das von Landgraf Moritz erbaute Theater ist die ein Jahrhundert zuvor von Landgraf Wilhelm II. gegründete Hofkapelle, die das Staatstheaterorchester als seine Keimzelle empfindet und das daher 2002 seinen 500. Geburtstag feierte. Die Namen dreier Komponisten verknüpfen sich mit der Kasseler Orchester-Tradition – Heinrich Schütz, Louis Spohr und Gustav Mahler. Vor allem Spohr, der ab 1822 in dem Opernhaus an der Königsstraße wirkte, verhalf dem Musiktheater zu einer ruhmreichen Entwicklung. An diese Zeit und den großen Geiger Spohr erinnerte nicht nur das Denkmal auf dem Opernplatz, sondern auch das Spohr-Archiv im Brüder Grimm-Museum.
Das vitale Musikleben, das sich im 19. Jahrhundert entfaltete, ist bis heute lebendig. Dabei wurden neben dem Staatstheaterorchester der Bärenreiter-Verlag und die Meisterkonzerte sowie die Kirchenmusik zu tragenden Säulen. Einen Höhepunkt erreichte das Musikleben in den 60er- bis 80er-Jahren, als die jährlich veranstalteten Kasseler Musiktage als ein Avantgarde-Festival von sich reden machten und gleichzeitig die Martinskirche unter Klaus Martin Ziegler der Neuen Musik in der Kirche ein Forum bot.
Auch die Frauenbewegung bereicherte das Musikschaffen auf vielfältige Weise. So beschert die Konzertreihe Komponistinnen und ihr Werk immer wieder Neuentdeckungen. Das Archiv Frau und Musik wanderte zwar aus finanziellen Gründen von Kassel nach Frankfurt ab, aber dafür blieb die Stadt ein Ort, an dem die von Frauen geschaffene und vorgetragene Musik besonders gepflegt wird. Wer davon spricht, darf den Gesamtzusammenhang nicht vergessen. Schließlich verfügt Kassel durch das Archiv der deutschen Frauenbewegung ein überregionales Forschungszentrum zur politisch-gesellschaftlichen Frauengeschichte.
Das Landesmuseum. Gern werden bei öffentlichen Reden fürs eigene Haupt Lorbeerkränze geflochten. So ist es für manchen Redner eine stehende Wendung, Kassel als die Stadt mit dem dritt- oder viertgrößten Museumsbestand einzustufen. Solche Einordnungsversuche sind nicht überzeugend, wenn man nur an die Museumslandschaften von Berlin, München, Dresden, Köln und Frankfurt denkt. Außerdem dürfte es schwierig sein, Flächen und Objekte gegeneinander aufzurechnen. Solche zweifelhaften Spielchen braucht man gar nicht, weil Kassel mit seinem Museumsangebot unter den ähnlich großen Städten einfach einzig ist. Und es bestehende gute Aussichten, dass diese Position noch gestärkt wird, wenn in den kommenden Jahren zwischen Schloss Wilhelmshöhe und dem Schlosshotel ein regelrechter Museumspark entsteht, in dem die historischen Sammlungen von den Kunstkammerschätzen über die astronomischen Objekte und Antiken bis hin zu den Gemälden zusammengeführt werden sollen. Das Museumszentrum im Bergpark würde dann im Großen wieder die Zusammenhänge sichtbar machen, die bestanden, als die landgräflichen Sammlungen im Kunsthaus (Ottoneum) und später im Museum Fridericianum präsentiert wurden. Auf der anderen Seite ist daran gedacht, im Innenstadtbereich die documenta-Aspekte zu stärken. Dabei könnte die Neue Galerie, für die seit 1982 Werke aus der documenta erworben werden, zu einem Museum der Moderne werden.
Diese Neugründung wäre der vierte große Einschnitt in der Geschichte der staatlichen (fürstlichen) Sammlungen. Den ersten vollzog Friedrich II. mit der Errichtung des Museums Fridericianum. Der zweite erfolgte unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, als das Fridericianum in eine reine Bibliothek umgewandelt wurde und die Kunstsammlungen in das neu erbaute Landesmuseum am heutigen Brüder Grimm-Platz umzogen. Damals befanden sich alle Abteilungen noch unter einem Dach; allein die Gemälde hatten in der Galerie an der Schönen Aussicht ihr eigenes Haus. Nach dem Krieg musste der von Theodor Fischer entworfene Bau als einzig erhaltner Museumsstandort sämtliche Abteilungen aufnehmen. Der dritte Einschnitt erfolgte im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau. Im Sinne des Zeitgeistes wurden die Staatlichen Museen in Spezialmuseen aufgegliedert: Die Kunst ab 1750 kam in die Neue Galerie, das astronomisch-physikalische Kabinett samt Technikgeschichte wanderte in die Orangerie, im Landesmuseum konzentrierten sich landeskundliche Sammlungen samt dem artfremden Deutschen Tapetenmuseum, und das moderne Kunsthandwerk erhielt Raum in der Torwache. Zwei Abteilungen jedoch wurden den Blicken der Kasseler Besucher entzogen: Die Volkskunde blieb wegen Platzmangels seit Kriegsende in den Depots, und die historische Waffensammlung wurde nach Bad Wildungen ins Schloss Friedrichstein verfrachtet.
Die wichtigste Entscheidung jedoch bestand darin, die Antikenabteilung mit dem Kasseler Apoll und die Gemäldegalerie Alte Meister mit den Schlüsselwerken von Rembrandt, Rubens, Hals, Jordaens, Dürer und Tizian in den Mittelbau von Schloss Wilhelmshöhe zu verlegen und damit eine einzigartige Symbiose von Kunst und Natur zu ermöglichen. Allerdings wurde eine überzeugende museale Präsentation der Gemälde erst nach dem im Jahre 2000 abgeschlossenen Umbau gefunden.
Im Vergleich zu den staatlichen Häusern sind die drei städtischen Museen bescheiden. Und doch hätte kaum jemand im Gründungsjahr 1979 dem Stadtmuseum eine so expansive Entwicklung vorausgesagt. Als eine gute Entscheidung erwies sich die Gründung des Brüder Grimm-Museum im Palais Bellevue, einem der wenigen erhalten gebliebenen Bauten aus der Oberneustadt. Das von der Stadt und der Brüder Grimm-Gesellschaft gemeinsam getragene Museum hat sich das Palais Bellevue nur allmählich erobern können und wartet im Zusammenhang mit einem Erweiterungsbau noch auf seine endgültige Erweckung. Schließlich braucht man viel Platz, wenn man die verschiedenen Aspekte der Arbeit von Jakob und Wilhelm Grimm (Märchen, Literatur- und Sprachforschung, Wörterbuch und Politik) spiegeln und auch noch das künstlerische Werk des Malerbruders Ludwig Emil Grimm einbeziehen will. Trotzdem hat das Grimm-Museum dank der Märchen-Faszination auch aus Fernost großen Zulauf, während das Naturkundemuseum im Ottoneum vor allem von der hervorragenden didaktischen Arbeit mit den Schülern profitiert.
Unmittelbar mit den Grimms zu tun hat die Sammlung von mittelalterlichen Handschriften und frühen Buchdrucken in der Murhardschen Bibliothek, einer beispielhaften Stiftung des 19. Jahrhunderts, die heute Teil der Universitätsbibliothek ist. Die Grimms hatten als Bibliothekare im Fridericianum mit diesen Sammlungen gearbeitet. Nachdem das Fridericianum und damit weite Teile der alten Landesbibliothek während des Zweiten Weltkrieges ausgebrannt waren, wurden die geretteten Handschriften und Bücher in die Murhardsche verlagert. Leider wird viel zu wenig beachtet, dass in einem musealen Tresorraum beispielhafte Handschriften und Buchdruck-Zeugnisse besichtigt werden können.
Denkt man an erstaunliche Museumskarrieren, darf man das Museum für Sepulkralkultur am Weinberg nicht vergessen, das in einem ebenso widersprüchlichen wie reizvollen Komplex untergebracht ist, in dem sich alte, vom Leben gezeichnete und neue Architektur verbinden. Das ohne Auftrag aus einem Archiv hervorgegangene Museum versucht alles das aufzuarbeiten und zu spiegeln, was mit Abschied, Tod, Bestattung und Erinnerung zu tun hat. Vor allem die attraktiven Sonderausstellungen haben bewirkt, dass das Museum zu einem beliebten Lernort und in den Museumsnächten fast zu einem Kultort geworden ist. Der Tod ist dort kein Tabu mehr.
Es war ein Zufall, dass im selben Jahr, nämlich 1992, in dem das Museum für Sepulkralkultur eröffnet wurde, rund um den Blauen See im Habichtswald das von Harry Kramer ersonnene Projekt Künstler-Nekropole gestartet wurde. Harry Kramer, documenta-Teilnehmer von 1964 und Professor an der Kunsthochschule, zielte ebenfalls auf eine Enttabuisierung des Todes. Er wollte, dass sich Künstler zu ihren Lebzeiten mit der Gestaltung ihres eigenen Grabmonuments auseinander setzen sollten. Gleichzeitig wollte er einen Beitrag zu dem spannungsreichen Verhältnis von Kunst im öffentlichen Raum leisten. Eine Grundbedingung Kramers ließ manchen Interessenten abspringen: Teilnehmen sollten nur die Künstler, die sich dann dort auch wirklich bestatten lassen wollten. Als Kramer seinen Plan entwickelte, herrschten noch strengste Begräbnis-Reglements und war an die Friedwald-Bewegung noch nicht zu denken. Deshalb musste er härteste Widerstände überwinden, bis die ersten Monumente von Rune Mields, Timm Ulrichs und Fritz Schwegler realisiert werden konnten. Mittlerweile ist das Skulpturenprojekt im Habichtswald zu einer Nekropole geworden, denn Kramer selbst wurde dort als erster beigesetzt – allerdings anonym, da er für sich selbst kein Monument geplant hatte.
Der Aschrottbrunnen. Timm Ulrichs war der erste Künstler, der sich selbst zum Kunstwerk erklärte. Dem gemäß versenkte er im Habichtswald kopfüber den hohlen Abguss seiner Körperform. So scheint er an seinen Füßen in der Tiefe der Erde zu hängen. Es war das dritte Kunstwerk in Kassel, das in die Erde versenkt ist.
Das erste hatte 1977 zur documenta 6 mit großem Aufwand und unter lautem Bürgerprotest der Amerikaner Walter de Maria geschaffen. Die Bohrungen für de Marias Erdkilometer hatten wochenlang die Kasseler in Atem gehalten und die Vorurteile gegen die zeitgenössische Kunst verstärkt. Dabei hatte der amerikanische Konzeptkünstler sich ganz einfach und streng an das damals bestehende Achsensystem auf dem Friedrichsplatz bezogen und im Schnittpunkt der Achsen den ein Kilometer langen Messingstab senkrecht im Boden versenken zu lassen, um mit ihm auf den Erdmittelpunkt zu verweisen. Der Künstler nahm damit direkten Bezug auf das Fridericianum als einem Gebäude der Aufklärung, in dem auch die Instrumente zur Vermessung und Standortbestimmung verwahrt worden waren. Der Clou der Arbeit aber bestand darin, dass der gewaltige handwerkliche Aufwand nach Abschluss der Arbeit nicht mehr erkennbar ist. Zwar sieht man auf dem Friedrichsplatz in einer Steinplatte das Ende des Stabes, aber im Grunde existiert der Erdkilometer nur in den Köpfen.
Als Horst Hoheisel zehn Jahre später den Aschrottbrunnen vor dem Rathaus neu gestaltete, mag er unbewusst de Marias Werk vor Augen gehabt haben. Sein Entschluss jedoch, die rekonstruierte zwölf Meter hohe Pyramide als nach unten weisenden Trichter im Boden zu versenken und so das Brunnenwasser nicht nach oben sprudeln, sondern nach unten ablaufen zu lassen, entsprang nicht einer Spielerei im Sinne der Konzept-Kunst, sondern beruhte auf sorgfältigen inhaltlichen Überlegungen. In mehreren anderen Projekten zur Auseinandersetzung mit der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten hat Hoheisel konsequent die Linie verfolgt, dass man dort, wo man die Vernichtung beklagt, nicht Monumente auftürmen kann, sondern den Verlust und die Leere sprechen lassen muss. Bei dem Aschrottbrunnen hatte er diese Position erstmals beispielhaft vertreten und war am Ende doch zu einer sinnlichen Lösung gelangt. Aber auch sein Werk vollendet sich nur im Kopf.
Der jüdische Unternehmer Sigmund Aschrott, dem die Stadt großartige Stiftungen verdankt, hatte 1908 die Finanzierung eines Brunnen vor dem Rathaus übernommen. Der Rathausarchitekt Karl Roth entwarf eine verspielte Pyramidenform, die mit der Rathausarchitektur korrespondierte. Als „Judenbrunnen“ wurde das Werk am 9. April 1939 von den Nationalsozialisten zerstört. Bereits im Jahr zuvor hatten die Nationalsozialisten die 1839 vollendete Synagogen geplündert. Dabei hatten die Kasseler Judenhasser und –verfolger ihren Gesinnungsgenossen im ganzen Reich ein Beispiel gegeben. Während im übrigen Deutschland am 9. November 1938 Synagogen zerstört und jüdische Geschäfte demoliert wurden, hatten die Nazis in Kassel bereits am 7. November die Jagd eröffnet. Erst holte die Meute aus der Synagoge den Thora-Schrein, Gebetsrollen sowie Kultgegenstände, um sie in Brand zu stecken, und dann zog sie zum Schul- und Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde, um es ebenfalls zu verwüsten. Die Stadtverwaltung ließ kurz darauf die Synagoge, um die sich bis 1933 an die 2300 Gemeindemitglieder versammelt hatten, abtragen und in einen Parkplatz umwandeln. Zur bitteren, nach dem Krieg aber auch erfreulichen Geschichte gehört, dass nicht nur eine Gedenktafel an die Kasseler Generalprobe für die Judenverfolgungen angefertigt wurde, sondern mittlerweile auch der strahlende Neubau einer Synagoge in der Stadt steht.
Die Linie 1. Jede Stadt hat ihre Widersprüche und muss mit den dunklen Seiten der Geschichte und den Brüchen fertig werden. In Kassel sind die Schatten der Geschichte besonders lang. Gleichwohl wurden auch hoffnungsvolle Zeichen des Lebens und der Zukunft gesetzt. Das wohl wichtigste verdankt die Stadt dem Bildhauer und Aktionskünstler Joseph Beuys, der von 1964 bis 1982 seine documenta-Teilnahme stets zu besonderen Projekten nutzte. Nachdem Beuys 1972 seinen documenta-Raum in ein Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung verwandelt hatte und 1977 unter der Honigpumpe die Idee seiner Freien Internationalen Universität erprobt hatte, ließ er sich 1982 auf die Auseinandersetzung mit dem Stadtbild ein. Er plante und realisierte die Aktion „7000 Eichen“, die so gewaltig und aufwändig war, dass deren Umsetzung sich über fünf Jahre hinzog und dass sie erst ein Jahr nach Beuys´ Tod, zur Eröffnung der documenta 8, abgeschlossen werden konnte.
Ganz gleich, aus welcher Richtung man die Stadt durchquert – immer wieder gelangt man in Straßen, die Beuys und seine Helfer in Alleen verwandelt haben. Aber auch inmitten der betonierten Stadt gibt es jene Bäume als Inseln, die unverwechselbar sind, weil sie jeweils durch eine Basaltsäule begleitet werden. Gewachsene Vergangenheit und wachsende Zukunft. Die Aktion hat die Stadt verändert und ihr zu einem neuen Verhältnis zu Bäumen verholfen. Dank des Projektes „7000 Eichen“, für dessen Entwicklung neuerdings neben der Stadt auch eine Stiftung sorgt, haben die Kunstfreunde gelernt, sich um die Wachstumsgesetze der Natur zu kümmern, während die Naturfreunde etwas vom Nutzen der Kunst erfuhren.
Eine Stadt in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit zu erfahren, ist ein schwieriges Unterfangen. Ein Stadtplan mit dem Baumkataster der „7000 Eichen“ kann zum Reiseführer taugen. Denn mit seiner Hilfe wird man in die unterschiedlichsten Winkel geleitet. Eine andere Möglichkeit kann darin bestehen, sich einfach in eine Straßenbahn zu setzen, um einmal quer durch die Stadt fahren. Schließlich ist Kassel die deutsche Stadt, die im letzten Jahrzehnt als erste wieder neue Straßenbahnlinien baute.
Am besten eignet sich für eine solche Erkundungsfahrt die Linie 1, die aus dem tiefen Norden in den hohen Westen fährt. Die Endhaltestelle an der Holländischen Straße, die Richtung Paderborn und Höxter führt, liegt auf einem Areal, das typisch für die Randzonen der heutigen Städte ist: Man bewegt sich in einem Gemisch aus Möbel- und Baumärkten, Schrottplätzen und Kleingärten. Man ahnt die Stadt, und doch hat sie sich hier verloren. Von der Endhaltestelle ist es auch nicht weit zu dem Stadtteil Rothenditmold, in dem heute die Industriebetriebe von DaimlerChrysler, Thyssen-Henschel und Adtranz konzentriert sind.
Die Fahrt geht dann durch ein Viertel, das von der Straßenbahn aus unwirtlicher wirkt, als es in Wahrheit ist. Im Straßenbild geben vor allem die hier lebenden Türken den Ton an. Ein kleines Kreuzberg ist in dem Viertel entstanden.
Hat man den Hauptfriedhof passiert, erreicht man an der Mombachstraße und am Holländischen Platz den Bezirk, an dem die Universität ihr Zentrum gefunden hat und in dem das Kulturzentrum Schlachthof und das Archiv der deutschen Frauenbewegung liegen. Vom Holländischen Platz aus sind es auch nur ein paar Schritte zur neuen Synagoge an der Bremer Straße.
Eine Haltestelle weiter, Am Stern, beginnt jenseits des Innenstadtrings die Fußgängerzone. Steigt man aus und wendet sich nach rechts, gelangt man zum neu gestalteten Gemeindezentrum Lutherkirche, in dem das Evangelische Forum als Stadtakademie ihren Ort gefunden hat. Der Turm der alten Kirche, der die Zerstörung überstand und jetzt mit neuem Leben erfüllt wird, ist ein Mahnmal gegen den Krieg. Rund um das Gemeindezentrum stößt man auf die Reste eines Friedhofs mit einigen Fürstengräbern.
Auf der anderen Seite der Fußgängerzone gelangt man zu den beiden gotischen Kirchen der Stadt. Die Brüderkirche ist mittlerweile aufgegeben und dient als kultureller Veranstaltungsraum. Die im Krieg zerstörte Martinskirche, Hauptkirche der Protestanten und Zentrum der neuen Kirchenmusik, verbindet auf beispielhafte Weise bis in die Kirchtürme die Formen historischer und moderner Architektur.
Die nächste Haltestelle ist der kreisrunde Königsplatz, um dessen Gestaltung es in den vergangen 20 Jahren die heftigsten Auseinandersetzungen gegeben hat. Der Platz ist ein Modell dafür, wie eine mit breiter Bürgerbeteiligung geführte Planungsdiskussion plötzlich umkippen und zu erbitterten Konfrontationen führen kann. Während die kreisförmig gepflanzten Platanen geschätzt werden, musste das Hauptstück der Neugestaltung, ein über den Schienen errichtetes Treppenbauwerk, dem Bürgerprotest weichen. Von Königsplatz aus geht es zur Ruine der Garnisonskirche, die sich in ein attraktives Restaurant (Caruso) verwandelt hat, zur Markthalle und zur Unterneustadt.
Die Bahn fährt nun durch die schnurgerade Obere Königsstraße, die vor über 300 Jahren angelegt wurde, als die Oberneustadt für die aus Frankreich vertriebenen Hugenotten erbaut wurde. Die nächste Station ist der Friedrichsplatz mit Museum Fridericianum, Ottoneum, Staatstheater, documenta-Halle und mit dem Zugang zur Karlsaue sowie zur barocken Karlskirche, die einst den Hugenotten zugedacht war. Auf der anderen Seite geht die Treppenstraße ab.
An der Rathaus-Kreuzung erreicht die Bahn die andere Seite des Innenstadtrings und das Ende der Fußgängerzone. Vor dem Rathaus sieht man den in den Boden gekehrten Aschrottbrunnen. Die dortige Haltestelle ist idealer Ausgangspunkt für den Besuch mehrerer innerstädtischer Museen: Durch die Wilhelmsstraße kommt man zum Stadtmuseum, über die verlängerte Obere Königsstraße gelangt man am Brüder-Grimm-Platz zum Landesmuseum, dahinter zur Murhardschen Bibliothek mit dem Handschriftentresor und etwas weiter zum Museum für Sepulkralkultur. Folgt man der Fünffensterstraße nach links, findet man an der Schönen Aussicht das Grimm-Museum und die Neue Galerie.
Nach einer Rechtsbiegung am Brüder-Grimm-Platz beginnt die Fahrt auf der die Stadt prägenden Achse der Wilhelmshöher Allee, in deren Verlängerung das Schloss und der Herkules stehen. Beide Wahrzeichen erkennt man von Anfang an. Sie wirken wie Magneten.
Zwei Haltestellen weiter passiert die Bahn einen zweiten Standort der Universität, der aus der Ingenieurschule hervorgegangen ist. Auf der rechten Seite beginnt oberhalb der Wilhelmshöher Allee der Vordere Westen, dessen Name für stolze Gründerzeit- und Jugendstilbauten sowie eine lebendige Szene mit vielen Kneipen und dem Filmladen steht.
Die Haltestelle Kirchweg steht für den selbstbewussten Stadtteil Wehlheiden. Für den kleinen Marktplatz (freitags Markt) schuf der documenta-Künstler Heinrich Brummack sinnfällig einen Brunnen als sprudelnden Topf, der von zwei Säulen mit goldenen Birnen flankiert wird.
Nachdem man auf der rechten Seite an dem von den Nazis erbauten Generalkommando, das heute das Bundessozialgericht beherbergt, vorbeigefahren ist, schwenkt die Straßenbahn nach links aus der Achse um unter dem hohen, von Säulen getragenen Dach vor dem ICE-Bahnhof Wilhelmshöhe zu halten. Hier hat Kassel seinen Anschluss an die Welt gefunden.
Die Bahn kehrt danach auf die Achse zurück, fährt an den dörflichen Resten von Wahlershausen sowie an dem Studio des Hessischen Rundfunks und an der Kurhessentherme vorbei, um ihre Fahrgäste dann an der Endhaltestelle in den Bergpark von Bad Wilhelmshöhe zu entlassen.
Der Bergpark. 1982 schuf der Amerikaner Claes Oldenburg seine documenta-Skulptur „Die Spitzhacke“. Er ließ die überdimensionierte Spitzhacke unmittelbar am Fuldaufer an dem Punkt aufstellen, an dem der barocke Park Karlsaue ausläuft und an dem die gedachte Linie vom Herkules über das Schloss und die Wilhelmshöher Allee endet. Durch seine Arbeit machte er eine landgräfliche Prägung der Stadt bewusst, die man dort gemeinhin aus den Augen verliert. Zwei große Parkanlagen, die fast gleichzeitig entstanden und die beide heute der Stadt ihren besonderen Reiz geben, wurden auf diese Weise zueinander in Beziehung gesetzt. Erst Jahre später, als die Diskussion darum begann, wie man den Bergpark mit dem Schloss, den Kaskaden und dem Herkules als Weltkulturerbe krönen lassen könnte, wurde der Plan gefasst, die Karlsaue, den Bergpark und das außerhalb gelegene Schloss Wilhelmsthal als fürstliches Ensemble zu betrachten und gemeinsam für die Unesco-Liste anzumelden.

Die Karlsaue mit der Orangerie ist um 1700 als barocker fürstlicher Park angelegt worden. Obwohl der Staatspark im späten 18. Jahrhundert nach englisch-romantischen Vorstellungen und im 19. Jahrhundert kräftig umgestaltet wurde, blieb die barocke Grundfigur mit den Weg- und Wasserachsen im Innern und den Rundformen nach außen bis heute erhalten, so dass die Karlsaue aus der Luft das wohl markanteste landschaftliche Element der Stadt ist. Seit dem Ende der Fürstenzeit ist die 150 Hektar große Karlsaue ein Volkspark, der sein erneutes Aufblühen in den vergangenen fünf Jahrzehnten den Bundesgartenschauen von 1955 und 1981 zu verdanken hat. Immer wieder haben Landschaftsprojekte zur documenta im Park neue Akzente gesetzt. Und seit 1987 ist das Rondell am Rande der Karlsaue an Sommerabenden ein beliebter Treffpunkt, wenn im Kulturzelt an der Drahtbrücke eines der angesehensten Festivals für Weltmusik und Jazz zu erleben ist.
Die Zentrumsnähe war stets ein besonderer Vorzug der an die Fulda grenzenden Karlsaue. Das Verdienst der Bundesgartenschau von 1981 ist, dass sie das Naherholungsgebiet verdoppelte und auf der andere Flussseite ein Freizeitgelände erschloss, das zum Spielen und Toben, Schwimmen und Surfen, Wandern und Radfahren einlädt. Auch viele Familien, vor allem auch Türken, die weder über Gärten noch Balkons verfügen, finden dort im Sommer ihren Platz zum Grillen.
Die Karlsaue bietet mit ihren wechselnden Garten- und Parkformen vielfältige Naturerlebnisse. Den Höhepunkt bildet die im Jahre 1710 geschaffene Blumeninsel Siebenbergen. Daneben birgt die Karlsaue zwei museale Attraktionen – das Museum für Astronomie und Technikgeschichte in der Orangerie sowie daneben in einem 1722-1728 erbauten Pavillon das Marmorbad, das mit seinen Marmorreliefs und –skulpturen von Pierre Etienne Monnot (1657-1733) ein einzigartiges Gesamtkunstwerk ist.

Als Landgraf Karl zu Beginn des 18. Jahrhunderts parallel zur Karlsaue in dem heutigen Bergpark Wilhelmshöhe die Kaskaden und das vom Herkules gekrönte Oktogonschloss anlegen ließ, war dieses Areal am Hang des Habichtswaldes kilometerweit von der Residenzstadt Kassel entfernt. Im 19. und 20. Jahrhundert hat die Stadt, der Achse der Wilhelmshöher Allee folgend, den Park eingeholt. Während sich die Orangerie und die Karlsaue an französischen Vorbildern orientierten, übernahm der Landgraf für den Bergpark italienische Gestaltungsprinzipien. Er selbst war nach Italien gereist und hatte dort den Künstler und Baumeister Giovanni Francesco Guerniero verpflichtet, der eine gewaltige Anlage aus Kaskaden, Grotten und Schlössern entwarf. Zwar konnte nur ein Drittel des Entwurfs verwirklicht werden, trotzdem wurde es eine der größten italienisch inspirierten Parkanlagen nördlich der Alpen und „das Grandioseste, was irgendwo der Barock in Verbindung von Architektur und Landschaft“ (Georg Dehio) gewagt hat. Die Worte gelten auch dann noch, wenn man bedenkt, dass der Landgraf sich finanziell überhoben hatte und dadurch manches gepfuscht wurde, dass Guerniero sich an der einen oder anderen Stelle verkalkulierte und der Tuffstein als Material zu schlecht war. Das Oktogonschloss und die Kaskaden sind daher permanent baufällig. Trotzdem ist die Faszination, die von dem unbewohnbaren Schloss in 525 Meter Höhe ausgeht, so groß, dass man nachvollziehen kann, dass Arnold Bode gerne mit einer Ausstellung dort eingezogen wäre.

Der Bergpark gehört zu den großartigsten Gartenanlagen in Europa, und er bietet unterschiedlichstee Anlässe zum Besuch. Es können im Sommer an Mittwoch oder Sonntag Nachmittag die Kaskaden mit ihren Wasserspielen sein, die sich über mehrere antik wirkende Wasserfälle fortsetzen. Es kann die Weitläufigkeit des Parks sein, dessen barocker Ursprung nach englisch-romantischen Mustern ausgestaltet wurde und der nahtlos in den Habichtswald übergeht. Genauso gut wirken die historischen Bauten als Magneten – als zentraler Punkt das vor etwas über 200 Jahren von du Ry und Jussow erbaute dreiflügelige Schloss, die gleichzeitig entstandene Löwenburg, die wie eine teilzerstörte mittelalterliche Anlage geschaffen wurde oder das Gewächshaus und das kostbar ausgemalte Ballhaus, die wir dem frühen 19. Jahrhundert zu verdanken haben. Manche Besucher lassen sich aber einfach von fürstlichen Räumen im Weißensteinflügel des Schlosses oder den Antiken und den Gemälden Alter Meister im Mittelbau anlocken, um sich dann zwischen den Kunstschätzen auch an den herrlichen Bildern erfreuen, die sich beim Blick aus den Fenstern ergeben.

Seit 1717 thront der aus Kupfer getriebene, 8,25 Meter große Herkules auf der Spitze einer Pyramide über der Stadt. Die Nachbildung des so genannten Herkules Farnese zeigt den sich nach seinen Taten ausruhenden Herkules. Von Landgraf Karl war er als Sinnbild der Fürsten ausgewählt worden, der Kraft, Stärke und Tugendhaftigkeit verheißt. Die Kasseler Bürger kannten nicht unbedingt die antiken Mythen. Daher galt ihnen der Kraftprotz, der das Tal und die Stadt bewacht, als christlicher Christopherus (Christoffel). Aber der ist ja auch ein Retter und Beschützer gewesen.
Die Zeit der Ruhe ging für Herkules aber 1982 zu Ende. Da unterstellte ihm nämlich Claes Oldenburg, dass er die gewaltige Spitzhacke an das Ufer der Fulda geschleudert hatte. Das war das Signal zu neuen Taten.

Januar 2004

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