Picasso als Grafiker

Pablo Picassos 100. Geburtstag (am 25. Oktober) wird in zahlreichen Etappen und an vielen Orten gefeiert. Das Werk des Spaniers ist auch umfangreich und vielfältig genug, daß sich neben den großen Retrospektiven kleinere Geburtstags-Ausstellungen gut behaupten können. Den Reigen der Picasso-Ehrungen im westdeutschen Raum eröffnet das Essener Museum Folkwang mit der Schau „Ausgewählte Graphik 1905 bis 1970“.
Bei der Auswahl der Arbeiten konnte das Museum Folkwang auf ansehnliche eigene Bestände zurückgreifen; ergänzt wurde der Eigenbesitz durch Leihgaben der Kunsthalle Bremen und des Kunstmuseums Hannover mit Sammlung Sprengel. Aus dem 1851 Blätter umfassenden grafischen Gesamtwerk Picassos wurden hier 130 zusammengetragen, die recht genau Picassos Entwicklung widerspiegeln. Der Ausstellung kommt zugute, dass man der Versuchung widerstand, die Radierungen, Lithographien und Linolschnitte noch durch einige beispielhafte Gemälde zu ergänzen. Auf diese Weise tritt das Eigengewicht der Grafik umso klarer hervor; sie verdient es auch, dass man sich ganz auf sie konzentriert.
Pablo Picasso fand als 18jihriger zur Radiertechnik; er eignete sie sich in den darauffolgenden Jahren in vollendeter Weise an. Die Essener Ausstellung beginnt mit seiner zweiten Radierung, „Das kärgliche Mahl“ (1904), die durch ihre Reife und inhaltliche wie formale Tiefe besticht. Dieses Blatt, das ein Paar in einer mehrdeutigen Stimmung fixiert, erscheint jedoch wie die flächen- und tonwertgetreue Übersetzung eines Gemäldes. Die eigene grafische Ausdrucksweise hat sich hier noch nicht durchgesetzt.
Wenig später entstehen jedoch schon die Blätter, auf denen wenige zarte Linien Figuren aus der Welt der Gaukler hinzaubern Diese Arbeiten wirken leicht und offen wie hingeworfene Skizzen. Anhand der Radierungen lässt sich gut Picassos weiterer stilistischer Entwicklungsgang verfolgen. Der kubische Aufbruch der Flächen und Figuren wird ab 1909 auch in der Grafik beherrschend. Während, die Gemälde jener Zeit mit ihren plastisch in- und übereinandergelagerten Flächenstücken dicht, räumlich und von Farbe gesättigt erscheinen, werden die Radierungen zu Ausflügen in die rein flächige Abstraktion. Ein Blatt wie das „Stillleben, Flasche“ von 1912 ist von graziler Leichtigkeit und Durchsichtigkeit; die kubistische Auflösung scheint auf ihr inneres Gerüst reduziert zu sein.
In jenen Jahren lässt sich Picasso nur gelegentlich auf die Beschäftigung mit der Grafik ein. Wie Zdenek Felix in dem der Ausstellung beigegebenen Katalog (der leider die meisten Blätter zu hart und zu dunkel abbildet) beschreibt, nahm nach 1920 die Zahl der grafischen Arbeiten beständig zu; bis Picasso schließlich als nahezu Neunzigjähriger in einem wahren Schaffensrausch zwei Zyklen mit über 500 Blättern schuf. In den dazwischen liegenden 50 Jahren kehrte Picasso immer wieder zur klassischen Figurenwelt zurück; aber auch die Auseinandersetzungen mit dem Surrealismus und mit dem eigenen Formen- und Gestaltungsfundus wurden zu zeitweilig bestimmenden Elementen. In dieser Spätphase zog dieser nimmermüde Maler und Grafiker endlich alle Register seines Könnens, um die mitunter kontrastierenden Mittel aufs Natürlichste zusammenzubringen.
In der Essener Ausstellung wird dieser Weg anschaulich illustriert durch beispielhafte Blätter zum Themenbereich der Maler und sein Modell (20er Jahre), Drucke aus der „Suite Vollart“ (30er Jahre) und schließlich Arbeiten aus der Nachkriegszeit, in der zeitweise die Lithographie ganz in den Vordergrund rückt.
Picasso war ein Graf iker, der sich seiner Möglichkeiten immer voll bewusst war und diese mit spielerische Raffinesse einsetzte: Mal skizzierte er nur mit einer ünnen
Linie die Figuren in einem sonst leeren (weißen) Raum, wie in den frühen Gaukler-Blättern; dann arbeitet er mit sich verdichtendem Kreuzstrich Gestalten aus einem imaginären, begrenzten Raum heraus (,‚Drei Frauen“, 1922); dann wieder setzt er der zart und elegant umrissenen Gestalt eine andere gegenüber, deren berkörper und Kopf sich im schwärzenden Liniengewirr plastisch ausbilden (,‚Bildhauer und kniendes Modell“, 1933); und schließlich führt der Grafiker vor, wie er in klassischer Manier aus der Summierung angebogener Linien ein dichtes und geschlossenen Bild schaffen kann (,‚Geflügelter Stier, von Kindern angestaunt“, 1934).

Der Grafiker Picasso nutzte nicht nur die Techniken in ihren normalen Ausformungen, sondern erweiterte diese ständig durch Experimente. Aber auch bei der Motivwahl setzte sich Picasso keine Grenzen; die erzählerische Ader drang allerdings immer ebenso stark durch wie das heitere und sinnenfrohe Naturell. Vor allen die erfrischenden und locker gestalteten Blätter aus dem 1968 entstandenen Zyklus „347 Gravuren“ führen die heitere, lustbetonte Welt vor, in der sich der Künstler selbst oft als abseits hockenden, schrumpligen Alten zeigt.
Rheinische Post 23. 5. 1981

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