Picasso erleben

Auch wenn man im Gebrauch Superlativen vorsichtig ist, wird man die derzeitige Picasso-Retrospektive im Yorker Museum of Modern Art als Jahrhundert-Ausstellung bezeichnen können. So groß und so vollständig ist dieser Künstler, dessen 100. Geburtstag wir im nächsten Jahr gedenken, bisher nicht gefeiert worden. Und eine derart kenntnisreiche und alle Entwicklungsstufen einschließende Schau des Picasso-Werks wird es so bald, vielleicht überhaupt nicht mehr geben.
Fast 1000 Werke aus Sammlungen aller Welt vereinigt diese Ausstellung. Das Museum of Modern Art, das mit ihr seinen 50. Geburtstag feiert, wurde aus diesem völlig leergeräumt. Ein wahres Picasso-Fest, zu dem die ersten Ideen noch mit dem Künstler selbst Anfang der 70er entwickelt wurden.
Eine solche Ausstellung verdient einen anspruchsvollen Katalog. William Rubin vom Museum of Modern Art hat ihn in Zusammenarbeit mit Dominique Bozo vom in Paris entstehenden Picasso-Museum (das allein 300 Werke zur New Yorker Ausstellung beisteuerte) überzeugend gestaltet: Die Autoren stellen den Band ganz in den Dienst der Aufgabe, Leben und Werk Picassos ausführlich zu dokumentieren. Daher wurde auf große interpretierende Aufsätze verzichtet. In 16 Abschnitten wird vielmehr in strenger Chronologie Picassos Schaffen, wie es die Ausstellung spiegelt, vorgeführt. Jedem Bildtafelteil geht ein illustrierter, stichwortartiger biographischer Abriss voraus. Insgesamt enthält der Band über 900 Abbildungen, von denen mehr als 200 farbig sind.
Eine so ümfassende, alle Schaffensperioden und alle wichtigen Werke einschließende Darstellung zu Picasso in einem Band hat es zuvor nicht gegeben. Gerade auch der biographische Teil wartet mit Bilddokumenten auf, die manche Überraschungen bergen. Der Originalkatalog, als Papperback herausgegeben, wird für 27 Dollar von der New Yorker Graphic Society, Boston, vertrieben. Nun liegt auch eine deutsche Ausgabe des Kataloges vor, die mit großer Sorgfalt erstellt wurde.
Das dickleibige Buch ist nicht nur hervorragend gedruckt, sondern wurde auch mit einem festen haltbaren Einband versehen. Die abgebildeten Werke sind exakt bezeichnet, wobei dem ins Deutsche übertragenden Titel jeweils die Originaltitel (Französisch oder/und Englisch) hinzugefügt wurden. Ein Werkregister mit sämtlichen Titelfassungen erleichtert die Orientierung.
Es ist eine Lust, in dem Buch zu lesen und zu blättern, wiederzufinden und neu zu entdecken. Alle, für die eine Reise zur Picasso-Retrospektive nicht zur Diskussion steht, können so doch aus der Ferne die einmalige Ausstellung miterleben. Die dort präsentierten Werke kann der Besucher der sowieso kaum bei einem Rundgang erfassen. Das Katalogbuch hat aber weit über die Ausstellung hinaus Wert und Bedeutung. Es ist zu einem neuen Standardwerk zum Leben und Werk Picassos geworden.

Rheinische Post 30. 8. 1980

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