Das Erbe einer Familie

Der Vater ist ein erfolgreicher Maler. Seine Bilder finden reißenden Absatz. Warum sollen dann die ebenfalls zu Malern ausgebildeten Söhne nicht versuchen, die große Nahfrage nach diesen Bildern zu befriedigen — mit Nachschöpfungen, Abwandlungen, Kopien und eigenen Kompositionen im Stile des Vaters? Und was macht es schon, wenn unter die .Kopien auch mal ein Bild rutscht, das eigentlich zu Unrecht die Signatur des Vaters trägt?

In der flämischen Familie Bruegel ist dies kein Einzelfall geblieben. Diese Maler- familie, die im 16. und 17. Jahrhundert in vier Generationen acht Zeichner und Maler hervorgebracht hat, verstand es mitunter, aus dem Ruf der Väter gutes Kapital zu schlagen. Schließlich lebte man auch in einer Zeit, in der Kunstwerk als Ware erkannt wurde und zu Marktpreisen gehandelt werden konnte. Und häufig kamen die Söhne bei der Anfertigung der Repliken nur anderen Werkstätten zuvor, die ebenfalls ihre Geschäfte mit eingeführten Namen und Bildern machen wollten, aber keinesfalls immer die beste Arbeit leisteten.

Erst kürzlich sorgte eine Untersuchung von Klaus Ertz für Aufsehen, in der der Autor einer Vielzahl von Bildern, die Jan Brueghel dem Alteren zugeschrieben werden, diese Urheberschaft bestritt. Auch als vor fünf Jahren das Kupfersichkabinett Berlin Pieter Bruegel d. A. in einer sorgf ältig erarbeiteten Ausstellung als Zeichner vorstellte, wurde das Publikum mit der Umschreibung einer Reihe wichtiger Blätter konfrontiert. Lückenhafte biographische Berichte, ungewollte und gezielte Undeutlichkeiten bei der Signatur wie auch die keineswegs als Arglist betrachtete Mode, gelungene und beliebte Kunst in Form von Kopien zu vervielfältigen, haben die Unsicherheiten über den genauen Umfang des jeweiligen Einzelwerks gefördert.
Doch ist es keinesfalls so, das es in der Malerfamilie Bruegel nur einen genialen Stammvater und eine Kette perfekter Nachahmer und Kopisten gegeben hätte. Gerade einer der eifrigsten Kopisten, Pieter der Jüngere, erwies sich als sehr eigenständige künstlerische Gestalt, die eine persönliche Kompositionssprache zu entwickeln vermochte. Unzweifelhaft aber ist der erste dieser Kette, Pieter Bruegel d. A. (1525? – 1569), die weit und einsam über alle Zeiten hinweg hinausragende Figur. An diesen ruegel denken wir, wenn wir von den Bruegelschen Figuren mit ihrem Nebeneinander von urwuchsiger Bauernwelt und apokalyptischer Vision sprechen. Vor elf Jahren hatte man ihm in Brüssel anlkäßlich seines 400. Todestages eine große Ausstellung gewidmet. Jetzt lockt Brüssel, wo dieser Maler wichtige Schaffensjahre verbracht hat, abermals mit einer Bruegel-Ausstellung: Anläßlich des l5øjährigen Staatsjubiläums des Belgischen Königreiches und im Rahmen des internationalen Kulturfestivals Europalia wird im Palais des Beaux Arts die Ausstellung „Bruegel — eine Maler-Dynastie“ gezeigt. Rund 300 Werke aus eineinhalb Jahrhunderten deuten an, welchen künstlerischen Reichtum die acht malenden Mitglieder dieser Familie hervorgebracht haben. Die aus aller Welt zusammengetragenen Gemälde, Zeichnungen und Kupferstiche vermitteln ein sehr umfassendes Bild, auch wenn viele zentrale Arbeiten aus konservatorischen Gründen nicht nach Brüssel ausgeliehen wurden.
Die drei wichtigsten Bruegels werden gern mit zupackenden Begriffen belegt: Bauern- Bruegel (Pieter d. Ä.), Höllen-Bruegel (Pieter d. J.) und Blumen-Bruegel (Jan d. A.) in Brüssel kann man nun erkunden, wie wenig treffend diese Begriffe sind. Vor allem der an Hieronynius Bosch geschulte Pieter d. A wird hier als ein außerordentlich vielseitiger Künstler vorgestellt: Er verband handgreifliche Realistik mit überbordender Phantastik, die Lust am Derben und Sinnlichen mit moralisierender Belehrung und die Liebe zum Detail mit dem Hang zur weitläufigen, monumentalen Weltschau.
An seinen Bildern verwundert immer, daß ihre Monumentalität innerhalb überraschend kleiner Formate gewonnen wird. Für die Brüsseler Ausstellung wird auf einem Prospekt mit dem Gemälde „Zwei Affen“ geworben, das 1562 entstand. Man
sieht in einem Fensterbogen zwei angekette-. te Affen sitzen; dahinter öffnet sich ein weiter Horizont über einer Küstenstadt (Antwerpen); in dieser geradezu impressionistisch leuchtenden Landschaft wachsen die Wahrzeichen des alten Antwerpen deutlich erkennbar in den Himmel. Es ist, als habe man ein Bild im Bild vor sich. Das Gemälde, das den Staatlichen Museen in Berlin gehört, ist aber nur 19,8 x 23,2 Zentimeter groß.
Selbst der zu den großen Werken zählende „Turm zu Babel“ (hier sieht man die in Rotterdam hängende Fassung) kommt nur auf ein Format von 60 x 74,5 Zentimetern. Dabei kann man in diesem Bild mit den Augen endlose Spaziergänge unternehmen, sich in der Weite der Landschaft verirren oder auf den Umgängen des unvollendeten Turmes immer wieder auf Arbeitstrupps stoßen, die mit feinstem Pinsel und Lupe gemalt sein müssen,
Zu den Widersprüchen des großen Bruegel gehört, daß viele seiner farbenfrohen Darstellungen des heiter-derben Bauernlebens als liebevoll-realistische Dokumente verstanden werden, daß diese Bilder auch in einem hohen Grad wahrhaftig sind, daß der Künstler aber die Szenen durchweg aus spöttischer Distanz und moralisierender Uberheblichkeit gemalt hat.
Beim Rundgang durch die Ausstellung merkt man sehr bald, daß diese Kunst, aus der Miniatur zur monumentalen Form zu gelangen, eigentlich nur noch der Sohn Pieter d. J. in dem hohen Maße beherrschte. Da für Brüssel mehrere wichtige Gemälde von Pieter d. Ä. nicht erreichbar waren, gewinnt in dieser Übersicht sein zeichnerisches und (nach seinen Vorlagen entstandenes) graphisches Werk an Gewicht. Voller Vergnügen sieht man da die Blätter, die uns die Figuren und Visionen vorführendie als
Bruegelsche Welt ein Begriff sind. Die — Darstellung der Tugenden und Todsünden
nahm er zum Anlaß, apokalyptische Träume auszuleben und Bilder mit kriechenden und kribbelnden Wesen in mitunter geisterhaften Landschaften anzufüllen. Im Gefolge Boschs entwickelte der älteste Bruegel dabei ein Vokabular, das heute noch gerne Surrealisten und phantastische Realisten benutzen. Wenn man beispielsweise eine aus dem Meer wachsende Uhr sieht, deren Zeiger ein Arm ist, dann ist der Sprung zu Dali nicht groß.

Pieter d. Ä. kann man in vielen wichtigen Werken auch durch seinen Sohn Pieter d. J. (1564 – 1638) kennenlernen. Die Brüsseler Ausstellung profitiert davon und zeigt etwa von ihm auch das Bild mit den 100 flämischen Sprichwörtern, das der Sohn nach einem Gemälde des Vaters schuf. Der jüngere Pieter wird hier mit weit mehr Gemälden vorgestellt, wobei die lebenslustigen, derben Szenen überwiegen. Zu den Schätzen hierunter gehört die Folge von neun runden Einzelbildern zu flämischen Sprichwörten. Die jeweilige Szene ist iso— liert und zu einem eigenen Bild komponiert:
die Miniaturen gewinnen vor allem in den Landschaftsdarstellungen die faszinierende Weite und Räumlichkicit, die die Bilder von Pieter d. Ä. auszeichnen.
Der andere Sohn von Pieter d. Ä., Jan d. A. (1568 – 1625), ging in die Geschichte als Samt- oder Blumen-Bruegel ein. Zeitweise war er aufgrund seiner Blumen-Stilleben und von Blumen-Girlanden umschlossenen Allegorien populärer als sein Vater. Die Blünien-Stilleben, die von der gleichen Detailbesessenheit sind wie die Werke des Vaters, faszinieren durch eine kühle Farbigkeit: die Blumen-Arrangements werden vor einem dunklen, abstrakt wirkenden Hintergrund gezeigt. Die mit allegorischen Figuren angefüllten Landschaften sind von einer fast unverbindlichen Glätte und Eleganz, sie führen ganz aus der Bruegelschen Welt hinaus. Doch auch dieser Bruegel schuf Werke seines Vaters nach. So sieht man ein düsteres Gemälde, auf dem die Totengerippe die Welt erobern (,‚Triumph des Todes“)
— eine Kopie.
Jan d. Ä., der in seinem eigenen Werk die stillen, lieblichen Szenen den derb-phantastischen vorzog, war aber auch in der anderen Bildsprache souverän. Von ihm kann man auch eine Reihe schöner Zeichnungen sehen, in denen sich realistische
Weltschau und leichte Strichführung verbinden. Die Blätter reichen aber nicht an die impressionistische Duftigkeit heran, die in den Bildern des Vaters zu finden ist.
Die Enkel Jan d. J. (1601 – 1678) und Ambroise (1617 – 1675) sowie die Urenkel Jan Peter (geb. 1628?) und Abraham (1631 – 1690) führen die von Pieter d. A. begründete Mal-Tradition fort, wobei sie sich allerdings mehr auf den Spuren von Jan. d. A. bewegen. Allegorische Kompositionen und Blumen-Stilleben sind die große Mode, Glätte und handwerkliche Perfektion herrschen vor. Die Bilder dieser vier wirken innerhalb der Ausstellung eher wie eine pflichtschuldige Komplettierung. Bei Jan van Kessel (1629 – 1679?), einem Enkel von Jan d. A., führt die Auseinandersetzung mit Blumen- und Tier-Stilleben zu wissenschaftlichen Einzeldarstellungen. Mit lexikalischer Genauigkeit malt er Käfer, Schmetterlinge und Pflanzen, ohne sie jedesmal in eine Gesamtkomposition einzubinden. Dann wieder komponiert er in manieristischer Manier aus Muscheln eine Girlande mit Gesichtern.
Noch einmal taucht in der dritten Generation der Bruegels, bei David Teniers (1610 – 1690), Schwiegersohn von Jan d. Ä., die bäuerlich-heitere und derbe Welt der Flamen auf. Sieht man von einigen Landschaftskompositionen ab, überwiegen bei Teniers die kleinen Szenen, die wie Ausschnitte aus den Bildern der alten Bruegels wirken. Die Welt scheint ruhiger, beschaulicher geworden zu sein, aber auch kleiner und bürgerlicher. Für all die herrlich beobachteten Szenen mit ihren unverwechselbaren Typen hat Teniers eine feste Bildsprache entwickelt, zu der durchweg das durchs Fenster grinsend zuschauende Gesicht eines Neugierigen gehört.

Rheinische Post 11. Oktober 1980

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