Der spanische Maler, Grafiker und Bildhauer Pablo Picasso (1881 – 1973) revolutionierte nicht nur die Kunst unseres Jahrhunderts, sondern hinterließ auch ein ungeheuer umfangreiches Werk: Rund 15 000 Gemälde, 660 Skulpturen. zahllose Zeichnungen und 1850 Grafiken. Als vor vier Jahren das Sprengel Museum in Hannover rund 400 Picasso-Werke (Gemälde und Grafiken) aus Eigenbesitz zeigte, konnte es sich als das deutsche Museum mit der größten Picasso-Sammlung präsentieren. Nun besteht eine gewisse Hoffnung, dass das Schlossmuseum in Gotha, was die Grafik anbetrifft, mit dem Sprengel Museum fast gleichziehen kann. Denn aus Privatbesitz wurden dem Gothaer Museum 332 der rund 700 Lithographien (Steindrucke) von Picasso anvertraut. Jetzt laufen alle Bemühungen dahin, aus dieser Ausleihe eine Dauerleihgabe zu machen.
Das Schlossmuseum kann den frisch gewonnenen Schatz nicht auf einmal in seiner ganzen Breite zeigen. Der größere Teil wird im Sommer zu sehen sein. Doch jetzt schon werden 116 Blätter ausgestellt, vorwiegend aus der Zeit, in der sich Picasso verstärkt der Lithographie zuwandte und mit dieser Technik experimentierte (Mitte der 40er und 50er Jahre).
Das schönste und anrührendste Blatt stammt aber bereits aus dem Jahr 1928: Da schuf Picasso im Nachklang zu seiner klassizistischen Periode jenes rätselhaft verklärte Halbgesicht, das wie ein Gegenstück zur Mona Lisa wirkt. Diese Lithographie bildet den starken Auftakt zu der Ausstellung.
Die Schau ist vorwiegend thematisch gegliedert. Den Bildern rund um seine Muse Francoise Gilo folgen Blätter zur Mythologie und zur Zirkuswelt. Im dritten Raum findet man Tiermotive (Stier und Taube); und im vierten schließlich Bilder zu seiner Frau Jacqueline sowie Arbeiten zum Thema Maler und Modell. In dieser Auswahl wird Picassos ganze Lust am stilistischen Experiment offenbar. Wenn da elf Zustandsdrucke des einen Stier-Motivs nebeneinander zu sehen sind, könnte man leicht an eine didaktische Anordnung denken, die den Weg von der konkreten Darstellung zur Abstraktion erläutern soll. Doch dem genialen Spanier ging es um mehr – um das Ideal- oder Urbild des Stieres. Und so arbeitete er ständig an der einmal gefundenen Form weiter und holte aus ihr immer neue Variationen heraus.
Eben darin liegt die Stärke der Gothaer Ausstellung, dass sie sich auf relativ geschlossene Werkgruppen konzentriert. Tragikomisch und spielerisch leicht zugleich wirken jene Blätter, die Mitte der 50er Jahre entstanden und ein Thema aufnahmen, das den alternden Picasso wiederholt beschäftigte – die wachsende Distanz zwischen dem Künstler und seinem begehrenswerten weiblichen Modell
HNA 15. 3. 1991