Die Lust am Leben

Ein denkwürdiges Wochenende für Spanien: Am Vorabend des 100. Geburtstages des spanischen Künstlers, der wie kein zweiter in diesem Jahrhundert die Kunst der westlichen Welt beeinflusst und vorangetrieben hat, wird heute ihm zu Ehren in einer Dependance des Madrider Prado-Museums eine Ausstellung eröffnet, die sich um das berühmte, gerade erst aus den USA heimgekehrte Monumental-Gemälde „Guernica“ gruppiert. Es wäre sicher falsch, in dieser gemalten Collage wider die Schrecken des (Bürger-)Krieges das wichtigste Gemälde des Pablo Picasso zu sehen. Doch durch das leidvolle Schicksal Spaniens und seine eigene Geschichte ist „Guernica“ nicht nur eines der politisch-engagierten Schlüsselbilder unserer Zeit, sondern auch zu einem mit Legenden behafteten Symbol geworden.
Das Bild, das nach der Bombardierung der spanischen Stadt Guernica entstand, Spaniens Pavillon auf der Weltausstellung von 1937 schmückte und nach Francos Sieg von Picasso in amerikanische Obhut gegeben worden war, kehrte nicht so sehr als Kunstwerk heim, sondern als Siegel für Spaniens Rückkehr zur Demokratie. Ganz gleich, wie sich der Kunstgeschmack in den nächsten Jahrzehnten entwickeln und wie lange sich der derzeitige Picasso-Boom halten wird, „Guernica“ ist zu einem Nationalheiligtum des demokratischen Spanien geworden.
Eingeleitet hatte die Serie der Jubiläums-Ausstellungen im vorigen Jahr das New Yorker Museum of Modern Art mit seiner fast 1000 Werke umfassenden Retrospektive. Der Katalog zu dieser Ausstellung, dessen deutsche Übersetzung bei Prestel angeboten wird, ist übrigens unter den 60 derzeit lieferbaren Picasso- Büchern und -Katalogen die beste illustrierte Lebens- und Werkübersicht.
Die Fülle der Literatur deutet an, zu welcher Leitfigur der am 25. Oktober 1981 in Malaga geborene Picasso geworden ist. Der Sohn eines Malers war schon als Kind von seinem Vater in die Kunst eingeführt worden, ihr blieb er bis zu seinem Tod (1973) 80 Jahre lang treu. Vitalität, die Freude am Ausdruck, die Lust am Leben und Gestalten waren dabei für ihn wichtigere Begleiter als Fragen der Konsequenz und Kontinuität. Indem Picasso zyklisch arbeitete, immer neu ansetzte und zu längst vergessenen Ansatzpunkten zurückkehrte, indem er sich also stets wandelte, blieb er sich treu.
Als 86jähriger schuf Picasso innerhalb von nur sieben Monaten eine Serie von 347 Radierungen. Diese unvergleichliche Schaffenswut brachte so etwas wie ein künstlerisches Testament hervor: eine Fülle leichter, heiterer und melancholischer Blätter, in denen die Figuren seines Lebens, die Frauen, die Gaukler und Sagengestalten wiederauftauchten, in denen er ein ungebrochenes Bekenntnis zum Leben und zur Lust ablegte und in denen er sich selbst als nur noch zuschauenden Alten selbstironisch darstellte. Diese Blätter ziehen auch noch einmal die Summe der Ausdrucksmöglichkeiten, zitieren den Kubismus, die Klassik und die Abstraktion und führen sie als überwunden vor.
Es ist daher logisch, dass Picasso, der 1907 mit seinem Gemälde „Les Demoiselles d‘Avignon“ einen der Grundsteine zur geometrischen Auflösung der Formen (Kubismus) und damit zur Moderne überhaupt legte, diesem Weg nur bis zu einem bestimmten folgte und nicht puristisch-konstruktiv wurde.
Picasso hat sich uns als der Maler des Jahrhunderts eingeprägt. Seine Bedeutung besteht aber darin, auch in der Grafik, in der Bildhauerei und nicht zuletzt in der Keramik weitreichende Impulse gegeben zu haben. Das Werk, das er hinterlassen hat, ist nahezu unüberschaubar. So konnte mit Leichtigkeit eine 276 Katalognummern aufweisende Picasso-Ausstellung aus dem Nachlass-Teil komponiert werden, der seiner Enkelin Marina zugefallen war. Diese alle wichtigen Stationen des Künstlers mit hervorragenden Werken dokumentierte Schau lässt die Deutschen an den Picasso-Feiern teilnehmen: Nach München und Köln zeigt sie nun Frankfurt im Städel. Neben bisher weniger bekannten Gemälden sieht man hier vor allem großartige Zeichnungs-Folgen aus Picassos Skizzenbüchern (Carnets) und Skulpturen, darunter die Gruppe „Die Badenden“, die Malerisches, Collagenhaftes und Bildhauerisches auf eine heitere Weise verbinden. Diese Skulpturengruppe hat für etwa neun Millionen Mark die Staatsgalerie Stuttgart erworben.

HNA 24. 10. 1981

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