Der Spanier Pablo Picasso, der von Frankreich aus die Kunst unseres Jahrhunderts in Bewegung und Aufruhr versetzte, wurde, als er 9ljährig starb, als der überragende Maler und Grafiker der Gegenwart gefeiert. Nun aber, elf Jahre später, entdecken wir eine neue, weithin übersehene Seite dieses Künstlers: den Bildhauer Picasso, der genauso rastlos und erfindungsreich, genauso experimentierfreudig und souverän wie der Maler Picasso war.
Wer hatte schon geahnt, daß das Skulpturen-Verzeichnis über 660 Nummern umfassen würde? Erst die Sichtung des Nachlasses, der Aufbau des Pariser Picasso-Museums und die kenntnisreiche Arbeit des Kunsthistorikers Werner Spies ermöglichten einen Überblick über den Gesamtumfang des plastischen Werkes. Und es ist verdienstvoll, dass der aus Anlass der Skulpturen-Schau in Berlin und Düsseldorf herausgegebene Katalog (Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 424 S., 40 DM in der Ausstellung) über den Anlass hinaus das Gesamtwerk würdigt und dokumentiert. Das Katalogbuch ist ein Ereignis für sich.
Die Ausstellung in der Kunst-halle Düsseldorf vereinigt ein knappes Drittel des plastischen Werkes und enthält die zentralen Arbeiten; lediglich die 1956 entstandene Gruppe „Die Badenden (Staatsgalerie Stuttgart) fehlt hier.
Es ist schwer zu sagen, was an diesem Werk mehr fasziniert: die Fülle die Einfälle und formalen Ansätze oder das Wechselspiel von Malerei und Plastik oder die Direktheit, mit welcher aus Fundstücken plastische Volumen geschaffen werden. Es scheint, als sei Picasso immer auf der Suche nach Möglichkeiten gewesen, die plastische Sprache zu erweitern, ohne sich selbst auf eine Ausdrucksform festzulegen. Und indem er eine Lösung gefunden und ausprobiert hatte, war sie für ihn erledigt. Das Ergebnis ist ein Werk, das alle Formen, die in diesem Jahrhundert erprobt wurden, vorausnimmt beziehungsweise einschließt.
Die überraschendste Entdeckung ist, wie viele Reliefs und Skulpturen direkte Bezüge zu Picassos (hier nicht ausgestellter) Malerei herstellen. Das gilt nicht nur für die späten Flachskulpturen (etwa Profil-Porträts aus bemaltem Blech), die mitunter wie aus der Leinwand geschnittene Bildteile wirken. Das fängt schon mit den frühen kubistischen Reliefs (Gitarren und Violinen) an, die den Zwischenschritt von der bemalten Fläche in die räumliche Gestaltung markieren. Das trifft auch für den Frauenkopf (Bronze, 1909) zu, an dem Picasso grundsätzlich (und daher wohl auch einmalig) demonstriert, wie sich unter der Hand des Kubisten der Kopf in Einzelformen auflöst, ohne seine Geschlossenheit zu verlieren, und wie aus den Wulstformen der Frisur und Augen- sowie Wangenpartien die Gestaltsprache für das Gesamtporträt entwickelt wird.
Fremdartig und doch faszinierend sind dazwischen die bemalten Bronzen, bei denen die Farbe nicht nur die räumliche Ausdruckskraft erweitert, sondern die die Schwere ihres Materials zu verlieren scheinen. Pablo Picasso hat, wie gesagt, alles durchprobiert. Er hat die klassische Form ebenso benutzt wie die abstrakt-konstruktive, er hat die Fläche in die Spannungsbezüge des Raumes gestellt, und er hat das prall-sinnliche Volumen geformt, er hat aus Gesichtern Masken und Fratzen werden und er hat Nasen ganze Gesichter überwuchern lassen.
Pablo Picasso hatte ein ganz unmittelbares, spielerisches Verhältnis zur Plastik. Nicht nur der Drang, alles durchzuspielen, spricht dafür, sondern auch sein Vermögen, aus billigen Fundstücken Skulpturen aufzubauen: Einen Schimpansenkopf gestaltet er ganz eindringlich aus zwei Spielzeugautos; ein geflochtener Korb wird zum Ziegenbauch, und in der Stillleben-Plastik „Ziegenschädel, Flasche und Kerzen (um 1952) ist die Lenkstange eines Kinderfahrrads um Gehörn geworden und markieren Nägel die Kerzenstrahlen.
Während in diesen Skulpturen auch eine Portion Komik steckt, ist die zentrale Arbeit dieser Reihe verblüffend einfach, ernst und klassisch schön: Ein Fahrradsattel und ein Lenker fügen sich zum „Stierschädel (1942). Pablo Picasso liebte es, Vorgaben der Wirklichkeit aufzunehmen und somit den Kreislauf der Formen verständlich zu machen. Und stets blieb sichtbar, aus welchen Quellen er geschöpft hatte. Trotzdem begnügte er sich lange Zeit nicht damit, durch bloßes Zusammenfügen von Fundstücken Skulpturen zu entwickeln: In den wichtigsten Schaffensperioden nutzte er diese Aufbauten nur als Grundstöcke für Bronzegüsse: Die Bronze hebt die Plastiken über die Sphäre des Zufälligen und Vergänglichen hinaus.
HNA 12. 1. 1984