Zwischen zwei Polen

Ausstellung „Realismus und Abstraktion“ von Sigurd Beyer in der Industrie- und Handelskammer – 16. 5. 2013

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor knapp 14 Jahren hatte Sigurd Beyer schon mal eine Ausstellung in der Industrie- und Handelskammer. Damals setzte ich mich als Kritiker der HNA mit dem malerischen Werk des Kasseler Künstlers auseinander. Wesentlicher Eindruck war, dass in der Ausstellung und damit in Beyers Schaffen zwei Welten aufeinander prallten. Im Zentrum der Betrachtung standen die magisch-realistischen Landschaftspanoramen, die zum Markenzeichen für Beyers Werk geworden waren. Dazwischen präsentierte der Maler völlig abstrakte, von Blautönen beherrschte Bilder.
Wie passte das zusammen? Aus meiner Sicht war das ein Experiment in zweierlei Hinsicht. Zum einen probierte der Künstler aus, ob er auf dem für ihn relativ neuen ungegenständlichen Feld genauso viel zu sagen hatte wie auf dem lang bewährten Gebiet der realistischen Malerei. Würden sich die Farbstudien mit ihren oft explosiven Kontrasten als gleichrangig behaupten? Zum anderen richtete sich die Frage an das Publikum, das sich auf Beyers erzählerisches Werk eingelassen hatte. Würde es auch die Lust an der reinen Farbe spüren und mit Beyers Experimenten etwas anfangen wollen?
Die Ausstellung, die Sie hier sehen, geht davon aus, dass die Fragen beantwortet sind: Freie Farbkompositionen und streng aufgebaute Panoramen hängen einträchtig nebeneinander. Der Titel und die Einladungskarte machen es unmissverständlich – „Realismus und Abstraktion“ sind zwei Seiten eines künstlerischen Werkes geworden. Sigurd Beyer steht damit nicht alleine. Gerhard Richter beispielsweise arbeitet und experimentiert seit über vier Jahrzehnten auf den beiden Ebenen von abstrakter und gegenständlicher Malerei. Aber ihn leiten dabei andere Motive, als sie bei Beyer im Spiel sind.
In meiner Kritik von 1999 hatte ich die damals vornehmlich blauen Kompositionen als schnell hingeworfene, spontane Fingerübungen eingeordnet. Der Eindruck war gewiss nicht falsch, da Beyer es mit Sicherheit nach der Fron der pingeligen Feinmalerei, in der jede Linie und jeder Punkt ihren exakten Platz finden müssen, als befreiend empfand, wenn er sich ausmalen und mit den Materialien spielen konnte. Aber es wäre zu kurz gegriffen, die abstrakten Bilder als Ergebnisse von hingeworfenen Entspannungsübungen einzustufen.
Wie in seiner realistischen Bildwelt ist Sigurd Beyer in der freien Malerei zum forschenden Künstler geworden. Nehmen Sie die blauen Bilder, die auch am Anfang der abstrakten Bemühungen standen. In den meisten von ihnen geht es nicht um den Malvorgang, um die Sprache des Pinsels, sondern es geht um die Intensität und die Leuchtkraft der Farben, um das Zusammenwirken von Ultramarin, Lapislazuli und Atzurit, um räumliche Wirkung und kristalline Strukturen. Und weil diese körperhaften Farbbilder aus der Tiefe noch andere Farbtöne durchscheinen lassen, entfalten sich in ihnen Energiezentren. Die unterschiedlichen Blautöne tragen dazu bei, dass sich mit jedem kleinen Lichtwechsel die Wirkung ändert.
In der jüngsten Zeit sind noch andere abstrakte Kompositionen hinzugekommen. Auf einmal drängen sich Gelb- und Rottöne in den Vordergrund, und auf einmal wird die Malerei zum Thema. An die Stelle der massiven blauen Farbräume treten offene Farblandschaften, die vom gestischen Pinselstrich beherrscht sind. Diese Bilder haben wirklich etwas von Lockerungsübungen, sie sind offen und emotional. Das Licht scheint unter den Farben zu liegen und dringt allmählich nach oben durch.
Die plastischen blauen Gemälde geben zwar den Ton an, doch die vielfarbigen Kompositionen belegen, dass Sigurd Beyer noch nicht am Ende seiner Suche ist. Zwei Bilder, die sich an der Grenzlinie zwischen freier und gegenständlicher Malerei bewegen, belegen das: In dem einen Fall sehen wir so etwas wie einen Tunnel vor uns, der von nachtblauen sowie im Hintergrund von gelb-roten Farbtönen beherrscht sind. In dieser Komposition setzen sich die malerische Kraft, die Lust an der Farbe und die Emotionalität durch.
Das andere Bild, das ich ansprechen will, lässt die Farben und angedeuteten Formen flirren. Wiederum herrschen die Blautöne vor, doch hier sind sie durchsichtig und mischen sich hintergründig mit weißen, rötlichen und schließlich auch orangefarbenen Tönen. Wie in einem bewegten Wasser brechen und spiegeln sich die Farben. Fast kann man sich vorstellen, wie diese durchsichtigen und in Bewegung begriffenen Farbräume in die realistischen Panoramen eindringen.
Dass diese Bildwelten gar nicht so weit auseinander liegen, kann man an dem Fensterbild mit Blick auf Kassel (das auf der Einladungskarte zu sehen ist)studieren. Wenn Sie sich nämlich genau das Fensterkreuz anschauen, werden Sie sehen, das sich auf dem Holz eine kräftige, gestisch-abstrakte Malerei entwickelt.
Dieses Gemälde hat für Sigurd Beyers Schaffen programmatischen Charakter. Denn er liebt es, in seiner realistischen Malerei mit einem Stillleben im Vordergrund den Blick in eine weitläufige Landschaft zu lenken. Nähe und Ferne werden miteinander vereint. Wir sehen die Türme der Martinskirche und den Herkules. Damit ist die Ortsbestimmung gegeben. Doch das, was vorne als Stillleben unseren Blick fesselt, könnte überall sein. So vereint sich das naheliegende Allgemeine und dem weit entfernten Speziellen.
Ein Fenster zur Welt öffnet sich auch in dem älteren Gemälde, das eine Baustelle mit Handwerkszeug zeigt. Der Zeitungsausriss, der in dem Bild zu sehen ist, dokumentiert die Zeit bei uns, in der die Angst vor der Neutronenbombe umging. Gleichzeitig ist das Bild mit der Salpeterflasche im Zentrum ein künstlerisches Bekenntnis – zu der Farbe Blau.
In Gemälden wie diesem zeigt sich Beyers altmeisterliches Handwerk. Mit großer Akribie entwirft er Landschaftspanoramen, die er erlebt hat und die er nun in Bühnen verwandelt, über deren Horizonte bizarre Wolken ziehen und in die er Menschen stellt und setzt, die einigermaßen verloren wirken. Sigurd Beyer ist ein Realist, einer, der bis ins kleinste Detail, etwa in einer Glasmurmel, die Reflektionen des Lichts verfolgt. Er fühlt sich aber nur soweit der Wirklichkeit verpflichtet, als er die Menschen und Objekte mit größter Genauigkeit darstellt.
Trotzdem haben die weiten Landschaften, die Küsten, Meere, Himmel und Wolken etwas Unwirkliches an sich. Alles erscheint erstarrt, eingefroren. Die Menschen scheinen der Weite ausgeliefert zu sein, aus der es kein Entrinnen gibt. Der realistische Blick entfaltet eine magische Kraft, die die Kompositionen zuweilen ins Absurde und Surreale gleiten lassen. Das üppige Früchtestillleben auf dem Tisch vor dem spiegelglatten Wasser, aus dem ein Gebirge aufragt, entführt in eine beklemmende Traumwelt. Noch surrealer wirkt die düstere Vulkanlandschaft, in der vorne rechts ein einsamer Junge als Rotkäppchen sitzt und in dem zwei feuerspeiende Vulkanfeuer zu sehen sind. Die realistische Malerei produziert überreale Welten, die wie bei Caspar David Friedrich von Verlorenheit, Einsamkeit, aber auch Sehnsucht berichten.
Dieses dramatische Gemälde sehe ich zugleich als ein Bindeglied zwischen den mit großer Sorgfalt entworfenen Landschaften und den sich frei entwickelnden Farbkompositionen. Ebenso gehört jenes Gemälde dazu, das den leicht bewölkten Himmel über dem Meer beschwört und dabei die magisch gespiegelte Realität an die freie Malerei heranführt. Die Synthese wird vielleicht noch erfolgen.

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