Konzentrierter Blick in die Landschaft

Nicht wenige Besucher der Documenta 11 laufen auf dem Weg von der documenta-Halle zur in der Aue liegenden Orangerie auf den überdimensionalen Rahmen zu und bestaunen ihn als Beitrag zur aktuellen Ausstellung. In der Tat hat das von der Künstler- und Architektengruppe Haus-Rucker-Co 1977 am Auehang aufgestellte „Rahmenbau“ nichts von seiner Attraktion verloren. Obwohl vom Friedrichsplatz aus der Blick in die Landschaft jenseits der Karlsaue unbegrenzt ist, erlebt man die Szenerie neu, wenn die Augen dazu verlockt werden,
durch den Rahmen zu schauen.

Es gerät der Dachaufbau der Orangerie in den Blick. Auch wird man aus der Ferne auf die weißen Skulpturen auf dem Gebäude aufmerksam. Ebenso sieht man aber auch durch den Rahmen die Schornsteine des dahinter liegenden Industriegländes. Das, was eingerahmt ist, nimmt man konzentrierter wahr, es scheint näher zu rücken. Es ist genauso, als stünde man am Auehang und würde durch den Sucher einer Kamera schau¬en: Auf einmal sieht man die Landschaft nicht mehr als end¬lose Weite, sondern innerhalb der Begrenzung als Bild.

Als der „Rahmenbau“ 1977 zur documenta 6 aufgestellt wurde, passte er genau zum Geist der Ausstellung. Die ver¬stand sich nämlich als Medien¬documenta und präsentierte erstmals im großen Umfang Fotografie. Der „Rahmenbau“ schien diese thematische Ausrichtung zu signalisieren. Er rahmt nicht nur die Landschaft ein, sondern wirkt wie ein überdimensionaler Sucher.
Bereits aus großer Entfernung entfaltet der Rahmen diese Wirkung. Kommt man näher, sieht man, dass ein zweiter, kleinerer Rahmen den Blick verengt. Er hängt an einer 22 Meter langen Stange über dem Hang und er holt wie der Zoom einer Kamera einen noch kleineren Ausschnitt aus der Landschaft heraus. Über einen Steg und eine Brücke kann man am großen Rahmen vorbei auf den kleinen Ausschnitt zulaufen und die Landschaft noch konzentrierter betrachten.

Die Gruppe Haus-Rucker-Co hat damit einen Beitrag zum Landschaftserlebnis geliefert, der aktiviert und zum anderen Sehen verleitet. Der Standort, den die Gruppe ausgewählt hat, ist ideal dafür. Denn beim Abgang vom Friedrichsplatz zur tiefer liegenden Aue befindet
man sich an einem günstigen Aussichtspunkt – den man allerdings leicht verpassen könnte. Wenige Meter von der Stelle entfernt beginnt die Straße „Schöne Aussicht“. Ihr ist im übertragenen Sinne auch das Werk gewidmet, auch wenn es Natur, Schlossarchitektur und Industriebauten in einem Rahmen zusammenbindet.Der Rahmenbau war als provisorisches Werk gedacht. Mittlerweile gehört er zum Stadtbild von Kassel. Er ist ständiges Symbol dafür geworden, dass sich die Weltsicht durch die documenta ändert. Dank der Kasseler Sparkasse ist der Rahmenbau in der Stadt geblieben. Das Kreditinstitut hat auch das Modell und drei Zeichnungen angekauft zu diesem Projekt für die Neue Ga¬lerie angekauft. In ihrer Sonder-ausstellung „documenta Erwer¬bungen“ zeigt die Neue Galerie unter anderem die Vorstudien, die das Konzept für den „Rahmenbau“ offenbaren.

HNA 16. 8. 2002

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