„Die Kunst hat bei uns schon immer eine große, eine achtenswerte Rolle gespielt. Doch heute wird sie gebraucht.“ Prof. Willi Sitte (66), Maler und Präsident des Verbandes bildender Künstler der DDR, ist sicher, daß der Stellenwert der Kunst in der DDR gestärkt worden sei. Sie werde nicht mehr wie in der Zeit der Dogmen nur zur Illustration von politischen und gesell-schaftlichen Themen oder von Ideologien benutzt, sondern ganz konkret eingesetzt. Das Design beispielsweise, das lange Zeit keine Bedeutung gehabt habe, gewinne nun eine neue Qualität in der DDR.
Diese Position umschrieb Sitte gestern in einem Gespräch mit unserer Redaktion. Gemeinsam mit anderen Repräsentanten des Verbandes bildender Künstler der DDR hatte er auf der Reise zur Eröffnung einer Ausstellung von DDR-Bildhauern in Bonn Station in Kassel gemacht, um hier die documenta zu besuchen und Gespräche mit Künstlern zu führen.
Die Künstler aus der DDR sind offen für Konkakte, sie suchen den Austausch. Das wird auch dadurch gefördert, daß es, wie Sitte bekräftigt, in der DDR-Kunst in den letzten zehn Jahren eine spürbare Entwicklung gegeben habe: Der Sozialistische Realismus sei eben nichts Statuarisches, er reagiere auf Veränderungen des Lebens und entwickle so neue Methoden und Formen. Darüberhinaus sei der Sozialistische Realismus nicht mehr die ausschließliche Basis der Kunst. Denn auch in der DDR, so Sitte, gebe es Konstruktivisten und Spielarten anderer Stile: „In dieser Richtung gibt es keine Tabus mehr.“
Die Künstler in der DDR sind demnach vom bloßen Abbilden von Gegenwartsvorgängen abgekommen. Sie wenden sich auch verstärkt historischen und mythologischen Themen zu. Wenn dann, wie bei den jüngsten Biennalen in Venedig, die Künstler mit religiösen Themen in den Vordergrund treten, dann ist dies nach Sitte kein Zeichen für eine neue Religiosität, sondern eher ein Hinweis darauf, daß allgemeinmenschliche Schicksäle und Bilder der Unterdrückung aufgearbeitet würden.
Wie weit geht diese neue Offenheit der DDR-Kunst? Wäre heute dort ein Platz für einen Künstler wie A. R. Penck, der vor einigen Jahren in die Bun¬desrepublik übersiedelte? Willi Sitte reagiert auf die Frage fast unwillig: Obwohl Penck mit seinen Strichmännchen-Bildern ein Außenseiter gewesen sei, habe man ihm die Mitgliedschaft im Verband bildender Künstler der DDR angetragen. Er aber habe Bedingungen gestellt, die die anderen gewählten Mitglieder nicht annehmen konnten. Wahrscheinlich, so Sittes Vermutung, habe Penck gar nicht als Künstler in der DDR leben und arbeiten wollen.
Sitte und seine Kollegen registrieren hoffnungsvoll den Entspannungsprozeß. Gleichzeitig nehmen sie mit Genugtuung zur Kenntnis, ‚daß die grundlegen¬den Vorbehälte gegenüber der DDR-Kunst in der Bundesrepublik nicht mehr bestehen. Doch Sitte warnt davor, das wachsende Verständnis für einander mit einer Annäherung zu verwechseln. Auch die Tatsache, daß es Anfang nächsten Jahres eine Ausstellung mit Beuys-Zeichnungen in Ostberlin und Leipzig geben wird, registriert Sitte mit einiger Distanz, zumal diese Schau auf höchster staatlicher Ebene vereinbart wurde.
Für den Verband bildender Künstler der DDR ist in der Bundesrepublik der offizielle Gesprächspartner der Bundesverband Bildender Künstler (BBK). Das Dilemma besteht jedoch darin, daß der DDR-Verband für die dortigen Künstler erst den Zugang zum internationalen Kunstbetrieb ermöglicht, während hier der BBK darunter leidet, daß die erfolgreichen Künstler mit ihm nur selten etwas zu tun haben wollen. Sitte sieht diese Schwierigkeiten, weiß aber gleichzeitig, daß es für ihn keine andere Ebene des Dialogs gibt.
Nach dem Abschluß des Kulturabkommens und im Zeichen des Honecker-Besuchs gibt es hier große Hoffungen in Bezug auf einen Kunstaustausch. Sitte nimmt das abwartend auf. Er freut sich über das Interesse, weiß aber, daß keineswegs alle Erwartungen erfüllt werden
können.
HNA 5. 9. 1987