Ein gewandelter Sitte

Die Einführungsworte von Peter Michel zur Ausstellung von Willi Sitte waren gut gemeint. Sie charakterisierten auch treffend die Situation, in der sich der in Halle lebende Maler heute befindet, weil er als ehemaliger Vorzeigekünstler der DDR und als Realist doppelt ins Abseits gestellt ist. Die Rede hatte nur den Nachteil, daß sie an dem eigentlichen Ereignis vorbeiging -nämlich an der Ausstellung, die in der Realismusgalerie (Fuldatal-Ihringshausen) einen stark gewandelten Willi Sitte vorstellt.

Weder der 74jährige Künstler selbst noch seine neuen Bilder machen den Eindruck, als würde die künstlerische Isolation in der früheren DDR belastend wirken. Im Gegenteil, Sitte scheint freier und ruhiger geworden zu sein. Seine Bilder wirken intimer und privater. Das hat nicht nur mit dem meist kleinen Format zu tun. Sittes bevorzugtes Thema ist der Mensch geblieben – der pralle, sinnliche Körper, die Akte und die Liebesszenen. Aber diese nackten Körper sind in ihren Formen fester, plastischer und dabei ruhiger geworden. Eine klassische Strenge ist zuweilen in die Bilder eingekehrt. Zugleich werden gelegentlich die gesichtslosen Menschen zu Figurinen.

Willi Sitte hat sich immer mit der Tradition auseinandergesetzt. Jetzt reibt er sich an der Moderne. Mal gliedert er den Hintergrund zu konstruktivistisch wirkenden Farbflächen Und dann verbeugt er sich vor dem Kubisten Picasso, indem in seine Figurenwelt Elemente einfließen läßt, die an den großen Kollegen und dessen revolutionäres Bild „Les Demoisel les d’Avignon“ erinnern.

Aber Sitte ist auch noch politischer Kritiker. In seinem Großformat „Wahrheitssucher“ wird ein nackter Mann, der mit verzerrtem Gesicht zwischen (Stasi-)Akten herumkriecht, von denen fast
erschlagen.

HNA 30. 10. 1995

Schreibe einen Kommentar