Willi Sitte (68), in Halle lebender Maler und früherer Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR, ist mittlerweile ein guter Bekannter in Kassel: 1977 war er erstmals mit einem Werkkomplex an der documenta beteiligt; im vorigen Jahr wurde in einer Einzelausstellung in der Brüderkirche ein ausgezeichneter Einblick in sein Gesamtwerk ermöglicht. Diese vom Kulturamt arrangierte Schau hatte neben den Gemälden auch Handzeichnungen und Lithographien vorgestellt, die den Maler von einer ganz anderen Seite zeigten.
Diese andere Seite kann man nun konzentriert in einer neuerlichen Sitte-Aus¬stellung studieren, die H.D. Tylle in seiner Realismusgalerie in Fuldatal-Ihringshausen (Auf dem Hasenstock 1 A) bis 30. Juli eingerichtet hat. Tylle konnte die Blätter selbst in dem Atelier in Halle aussuchen und, so manches Blatt einbeziehen, das bisher nie ausgestellt worden war.
Sitte ist ein von der Farbe besessener Maler. Begegnet man nun ausschließlich seinen grafischen Arbeiten, erlebt man einen ganz neuen, viel stilleren Künstler. Die Zeichnungen und Lithographien wirken offen, manchmal torsohaft und dann wieder wie Collagen. Der expressionistische Ton, der aus den farbkräftigen, von Rottönen dominierten Gemälden spricht, tritt hier zugunsten einer klassischen Gestaltungsweise zurück. Fast begeistern diese Blätter noch stärker als die Malerei.
Ob sich Sitte mit den Großen der Kunst auseinander setzt (Grünewald, Rembrandt, Goya, Courbet, Corinth), ob er Studien für, seine politischen Gemälde entwirft oder ob er Liebesthemen aufgreift immer geht es ihm um den Menschen, seine Körperlichkeit, seine Gefühle. Die prallen sinnlichen Formen sind daher Zeugen von Ängsten, Nöten und Kämpfen. Auschwitz ist ebensowenig vergessen wie die Hoffnung auf Liebe.
Bei der Anlage seiner Zeichnungen geht Sitte sehr unterschiedlich vor. Mal arbeitet er mit der Feder die Figuren und Räume heraus, dann wieder grundiert er mit dunkler Farbe eine Fläche, aus der er dann mit schwarzen und weißen Pinselstrichen Körper plastisch herausarbeitet. Eine großartige Begegnung.
HNA 26. 6. 1989