Gewalt und Körperlichkeit

Vor elf Jahren sagten die Maler Baselitz und Lüpertz ihre Teilnahme an der Kasseler documenta ab, weil eine eigene Abteilung der offiziellen DDR-Malerei gewidmet war. Das Zentrum und damit den stärksten Reibungspunkt bildeten damals die Gemälde von Willi Sitte (Jahrgang 1921), der nicht nur einer der prominentesten DDR-Maler ist, sondern auch als Präsident des Verbandes Bil-dender Künstler ein Exponent der dortigen Kulturpolitik. Seine Werke erschienen zu jener Zeit vielen als der Inbegriff des hierzulande reichlich gescholtenen Sozialischen Realismus.

Mittlerweile hat sich viel geändert. Die Kunstlandsehaft der DDR ist Bewegung geraten; der Sozialistische Realismus ist, wie Sitte. vor einem Jahr gegenüber unserer Zeitung bekannte, forteritwiekelt worden und auch nicht mehr die alleinige Basis des Kunstschaffens. Andererseits, hat das Kulturabkommen mit der DDR das Tor zu einem normalen Austausch aufgestoßen.
Nun sind die fünf Bilder Sittes, die 1977 auf der documents zu sehen waren, noch einmal nach Kassel zurückgekehrt. Bis zum 4. September werden sie innerhalb einer rund 100 Gemälde, Zeichnungen, und Lithographien umfassenden Werkschau gezeigt und damit in einen Zusammenhang stellt, der sehr schnell verdeutlicht, daß man mit Begriffen wie Sozialistischer Realismus hier nicht weit kommt.

Die Sitte-Ausstellung kommt aus Osnabrück, wo sie in der Dominikanerkirche gezeigt
worden war. Auch in Kassel ist die Werkschau in einen Kirchenraum eingezogen, in die Brüderkirche, in der zuletzt anläßlich der documents 8 (1987) die Ausstellung „Ecce Homo“ zu Sehen war. Der kirchliche Umraum steigert die Wirkung der Werke Sittes enorm, weil diese politisch-kritische Malerei sehr bewußt aus der Tradition des Abendlandes entwickelt ist und
immer wieder auf die Symbole der religiösen Sprache (Kreuzigung, Altar, Töd)zurückgreift. Vor allem Sittes 1973/74 gemaltes Triptychon „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und
Freiheit“, das unmittelbar vor dem Altarraum mitten in das Kirchenschiff hineingehängt wurde, wird hier selber zum Kirchen- und Altarbild. Wie auf zahllosen Altarbildern bildet eine Kreuzigungsszene das Zentrum, doch es ist nicht Christus, der hier den gewaltsamen Tod erleidet, sondern der Mensch. Das Triptychon, das den Kreis der politischen Grausamkeiten von den Nazis bis hin nach Chile umschreibt; gewinnt hier eine neue Qualität.

Willi Sitte ist ein Maler, der unniißverständlich ist. In seinen Bildern beklagt er immer wieder das Leid der Menschen und beschwört zugleich die Angst vor allen faschistischen Tendenzen,ob sie nun Teil der Vergangenheit sind oder unsere Gegenwart mit ausmachen. Wenn er die „Sonnenfinsternis über Oberhausen“ malt und demonstrierende Arbeiter ins Bild bringt, dann kann er allerdings sehr leicht programmatisch, ja, pro¬pagandistisch werden. Wenn er sich aber hineinversenkt in das Wechselspiel von Gewalt und Körperlichkeit, dann öffnet sich ein weites Feld für den Maier.

Sitte ist ein äußerst sinnlicher Maler. Selbst da; wo er die Ängste vor Folter und Faschismus vor Augen führt, hat er das Menschenbild im Sinn, den prallen, vom roten Blut durchströmten Körper. Bei all seinen Angstvisionen ist Sitte ein Optimist geblieben, ein Maler des Lebens, der sich zum Diesseits bekennt, seine Schönheiten und seine Lust auskostet.

Vor allem aber ist Sitte ein Maler, der die Expressionisten ebenso studiert hat wie die Im-pressionisten. Er hat für sich die Sprache der Farbe entdeckt, die sich loslöst und Eigendynamik gewinnt. Insbesondere ist dies an Bildern wie vom „Schwimmer“ oder vom Gekreuzigten“ zu studieren, in denen Sitte so tief in die Dynamik eindringt, daß er die Grenzen der Abstrak¬tion erreicht. Sitte erscheint als ein farbbesessener Maler.

HNA 16. 7. 1988

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