Als sechsten Teilnehmer der Documenta 11 stellen wir den Chilenen Alfredo Jaar (Jahrgang 1956) vor, der bereits in der documenta 8 eine außerordentliche Arbeit gezeigt hatte.
Was leistet die Kunst? Die Antworten, die der Chilene Alfredo Jaar 1987 auf die Frage mit seinem documenta-Beitrag gab, waren radikal und doch in höchstem Maße zurückhaltend und ästhetisch. Er hatte an einer Wand drei Leuchtkästen mit Fotos angebracht, auf denen die Füße und Beine von schwarzen Menschen zu sehen waren. Alle drei Bilder standen Kopf.
Vor den Leuchtbildern lagen drei Goldrahmen. Der eine Rahmen war leer. Das heißt: Die Kunst sorgte für den schönen Schein, ohne inhaltlich etwas zu vermitteln. Der zweite war angefüllt mit weiteren, kleineren Rahmen, ohne dass ein Bezug zu dem darüber hängenden Leuchtbild entstand. Was so viel bedeuten sollte, dass die Kunst für die Fragen der Welt nicht offen war, weil sie sich mit sich selbst beschäftigte. Allein der dritte Rahmen teilte etwas mit. Er war knapp zur Hälfte mit einer Spiegelfläche ausgelegt, die nicht nur das darüber hängende Foto widergab, sondern die Kopf stehenden Menschen wieder auf die Füße stellte. Die Arbeit reflektierte die Kunst und ihre Ausdrucksmöglichkeiten in äußerster Radikalität: Die Bilder der erbarmungslosen Wirklich¬keit sind da, aber in zwei von drei Fällen kümmert sich, die Kunst nicht darum, sondern hat nur einen Blick für ihre eigenen Fragestellungen.
Heißt das im Umkehrschluss, dass die Kunst mit Hilfe der Fotografie und verwandter Techniken anklagend das Grauen zeigen soll? Jaar, der Fotograf und Architekt, glaubt nicht an die unmittelbare Wirkung an¬geblich aufwühlender Bilder. Seiner Meinung nach entzieht sich das Grauen der unverstellten Darstellung.
Deshalb wählt er den indirekten Weg und zeigt Fotos, die das Unsagbare einkreisen. Jaar bevorzugt das beiläufig Schöne, um Fragen zu provozieren und zur Auseinandersetzung zu zwingen. So versuchte er den Völkermord in Ruanda aufzuarbeiten, bei dem mindestens eine Million Menschen ums Leben kamen. Diesen Völkermord, den die Weltöffentlichkeit nicht ernsthaft zur Kenntnis nahm, wollte er nicht durch Bilder von Leichenbergen und trauerndenOpfern dokumentieren. Das wäre seinem Verständnis nach auch eine Art politischer Propaganda gewesen.
Jaar entschied sich für die vorsichtige Annäherung, die Spurensicherung, zu der die Fotos eines Teefeldes und einer Wolke gehören. Diese Fotos wirkten wie Lebensbehauptungen. Erst die Beigaben im Umfeld – umgedrehte Lichtkästen (wie von der Zensur verboten) und ein Informationsblatt – wiesen den Weg zu der erschütternden Perspektive. Ähnlich ging er vor, als er die unmenschlichen Zustände an der Grenze zwischen den USA und Mexiko thematisieren wollte.
HNA 2. 3. 2002
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