Weiße Räume in Industriehallen

Erstmals geht die documenta aus dem Kernbereich der Innenstadt hinaus. Gestern stellte in Kassel das Architektenbüro Kühn-Malvezzi sein Raumkonzept für die Binding-Brauerei vor.

„Noch 99 Tage“ (bis zur Documenta 11) verkünden an fünf Stellen Plakate im Kasseler Stadtraum. Der Countdown soll bis zur Eröffnung durchgezogen werden – mit wechselnden Plakaten an jedem Tag. Was als Ankündigung für die Öffentlichkeit gedacht ist, versteht sich zugleich als Mahnung nach innen, denn es sind noch umfangreiche Bauarbeiten zu bewältigen, bevor die Kunst einziehen kann.

Gestern wurde der Presse die größte Baustelle vorgeführt: Die ehemalige Binding-Brauerei am Kasseler Hafen wird in den nächsten WoChen zu dem Standort ausgebaut, der mit 6000 Quadratmetern Fläche (nahezu doppelt so groß wie das Fridericiänum) der Ausstellung eine völlig neue Qualität geben wird. Zum ersten Mal verlässt eine, documenta mit der Wahl dieses Ortes den Kernbereich der Innenstadt und erstmalig wird ein Industriebau genutzt.

Die 1897 erbaute Brauerei besteht im Kern aus einem denkmalgeschützten Backsteinbau. Im Laufe ihrer Geschichte ist die im Jahr 1999 geschlossene Brauerei viermal durch Hallenanbauten erweitert worden. Dadurch ist eine Abfolge unterschiedlicher Raumsituationen entstanden. Das mit der innenarchitektonischen Gestaltung beauftragte Architekturbüro Kühn-Malvezzi (Wien) orientiert sich bei der Planung der Umbauten an dem klaren Raster rechtwinkliger Räume, die in dem historischen Backsteinbau gegeben sind. Diese Raumstruktur soll auf das gesamte Gelände übertragen werden.

Ziel der künstlerischen Leitung um Okwui Enwezor ist es, jedem der eingeladenen rund 100 Künstler für seine Arbeit einen angemessenen (eigenen) Raum zur Verfügung zu stellen. Wie Wilfried Kühn in der Pressekonferenz für das Architektenteam erläuterte, soll für die Ausstellung eine Abfolge weißer Räume gestaltet werden. Dabei sollen die Besucher von einem Künstlerraum in den anderen gehen können. Sie können aber auch Kreise ziehen und über umlaufende Flure (graue Räume) durch den Komplex wandern, wenn man nicht einen Beitrag unmittelbar auf den anderen folgen lassen will.

Die weißen Wände, die eingezogen werden und der gleichmäßige Lichtteppich, der von oben die Räume erhellen soll, werden die Industriearchitektur neutralisieren. Bewusst hat man zwar ein altes Fabrikgebände als einen eigenen Ort urbaner Struktur gewählt, doch es soll nicht thematisiert werden. Wohl sollen die Besucher die Andersartigkeit des Gebäudes (im Gegensatz zum musealen Fridericianum) erleben, doch sollen sie das nur registrieren, sich ansonsten aber auf die Kunstwerke konzentrieren. Zu einer besonderen Attraktion wird möglicherweise ein überdachter Gang außerhalb der Hallen, der eine Verbindung von innen und außen herstellen wird.
Der Eingang in das Labyrinth der Binding-Räume wird von hinten erfolgen, also von den neueren Hallen aus, deren Fassade allerdings wirkt, als hätte sie gerade einen Krieg überstan¬den. Dort soll auch ein Service¬bereich mit Garderobe, Karten-und Katalogverkauf entstehen.

Auch für Enwezor bleibt das Museum Fridericianum als das Stammhaus der documenta der zentrale Ort. Doch wird durch die Flächenausdehnung die Brauerei zum größten Ort, an dem etwa 40 Prozent der Künstlerräume zu sehen sein werden. Weitere Ausstellungsorte sind neben dem Fridericianum der Südflügel im Kulturbahnhof, die documenta-Halle und die Karlsaue. Es deutet sich an, dass jeder Ort ein thematisches Leitmotiv erhalten wird.

Das Architektenteam Kühn¬Malvezzi wird die Gestaltung aller Ausstellungsräume in die Hand nehmen. Allerdings werden die baulichen Eingriffe in den anderen Häusern nicht so stark sein. Dort wird man, wie Wilfried Kühn sagte, behutsam vorgehen und Fragen der Lichtführung etwa im Blick auf die daort gezeigten Arbeiten klären. Für den Ausbau der Ausstellungsräume sind etwa 1,5 Millionen Euro veranschlagt.

HNA 1. 3. 2002

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