Corinth als documenta-Künstler

Arnold Bode und Werner Haftmann hatten Lovis Corinth (1858 – 1925) weder in der ersten noch zweiten documenta berücksichtigt. In der documenta III allerdings war Corinth mit seinem Spätwerk (1921 – 1925) in einem eigenen Kabinett gut vertreten. Offenbar hatten die documenta-Macher erkannt, dass der späte Corinth ein Wegbereiter der reinen, freien Malerei gewesen war und damit ein Pionier der Moderne war. Mit 14 Gemälden war Corinth in der documenta von 1964 präsent. Den Schwerpunkt bildeten sieben Porträts (darunter das letzte Selbstporträt von 1925) und drei Walchensee-Gemälde.

corinthb

Corinth, der ab 1918 regelmäßig an den Walchensee zur Erholung und Naturstudium fuhr, malte diese Landschaft zu jeder Jahreszeit. Er schuf vielfältige Panoramen und Detailansichten. Rund 60 Walchensee-Gemälde entstanden in den sieben Jahren. Eines der Hauptwerke aus dieser Reihe besitzt die Museumslandschaft Hessen Kassel (mhk.) mit dem Gemälde „Walchensee, Landschaft mit Kuh“, 1921.

Was bisher kaum beachtet wurde, ist die Tatsache, dass dieses Walchensee-Bild in dem Corinth-Kabinett der documenta III zu sehen war, damit also zu den documenta-Erwerbungen der Neuen Galerie zu rechnen ist. Weder in dem Katalog „documenta-Erwerbungen für die Neue Galerie“ (Kassel, 2002) noch in dem Band „Die wahre Kunst ist, Unwirklichkeit zu üben – Lovis Corinth Walchensee, Landschaft mit Kuh“ (Berlin, 2008) gibt es entsprechende Hinweise.

Allerdings lief die Erwerbung ganz anders als bei den meisten documenta-Ankäufen ab. Denn zur Zeit der documenta III befand sich das Gemälde im Besitz des Londoner Sammlers Dr. F. Rothmann, an den es über F. Gurlitt (Berlin), Kachlik (Berlin) und L. Eger (Chemnitz) gekommen war. Rothmann nun hatte die „Landschaft mit Kuh“ zusammen mit 16 anderen Gemälden, vier Aquarellen und fünfzehn Zeichnungen von Lovis Corinth im November 1963 als Leihgabe für ein Jahr nach Kassel in das Landesmuseum gegeben. Damit kam er den Wünschen des Direktors der Staatlichen Kunstsammlungen, Prof. Erich Herzog, entgegen, der 1962 sein Amt angetreten hatte, und sich bemühte, die Gemäldesammlung um Werke aus dem 20. Jahrhundert zu bereichern.

Das war nicht einfach. Denn nicht nur die Geldmittel waren knapp, sondern es fehlten auch die Räume. Der Mittelbau von Schloss Wilhelmshöhe sollte erst 1974 für Gemälde Alter Meister und die Antikenabteilung fertig sein, und die Neue Galerie, in der die städtischen und staatlichen Kunstsammlungen ab 1750 vereinigt werden sollten, wurde erst 1976 eröffnet. Herzog musste sich also mit den Räumen im Landesmuseum begnügen.

Vor diesem Hintergrund wird sichtbar, wie wichtig ihm die Werke von Corinth erschienen: Im Herbst 1963 ließ er im Landesmuseum zwei Säle renovieren, um in ihnen die Corinth-Sammlung von Rothmann repräsentativ auszustellen. Gewiss hatte Herzog dabei schon darauf spekuliert, das eine oder andere Bild dauerhaft für die Kasseler Sammlungen zu erwerben. Er selbst sorgte systematisch dafür, Corinth zu einem Schwerpunkt-Künstler der Kasseler Sammlungen zu machen. Unter seiner Regie wurden ab 1964 „Portät der Frau Bay aus Hamburg“, „Die Schwarze Maske“, „Verführung“, „Mann mit Schlapphut“ (Kopie nach Frans Hals) und „Porträt des Malers Paul Baum“ erworben.

Aus Sicht der documenta III heißt das: Die Präsentation der Corinth-Bilder im Landesmuseum lenkte den Blick auf diesen Künstler und vor allem auf die „Landschaft mit Kuh“, die als eines der Hauptwerke unter den Walchensee-Landschaften gilt. Bode und Haftmann konnten das Werk vor Ort studieren und ohne große Mühe für die documenta III aus dem Landesmuseum entleihen.

Es sollte aber noch 15 Jahre dauern, bis die Staatlichen Kunstsammlungen das in der documenta gezeigte Walchensee-Bild für die Neue Galerie ankaufen konnten. Offiziell trat die Stadt als die Erwerberin auf, da der Ankauf aus den städtischen Mitteln finanziert wurde, die den Staatlichen Kunstsammlungen für die Betreuung der städtischen Kunstwerke jährlich gezahlt wurden (damals 100.000 DM). Da das Bild aber über 500.000 DM kostete, musste ein Darlehen aufgenommen werden und die Summe in Raten abbezahlt werden.

Unter den Werken, die in einer documenta gezeigt wurden und dann für die Neue Galerie erworben wurden, nimmt Corinths Gemälde „Walchensee, Landschaft mit Kuh“ deshalb eine Sonderstellung ein, weil es die bisher einzige Arbeit ist, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde und damit für die Kunstwerke steht, die Bode und Haftmann 1955, 1959 und 1964 als Wegbereiter der Moderne vorstellen wollten. Alle anderen Erwerbungen, die der Frühzeit der documenta zuzuordnen sind, stammen aus den 50er- und 60er-Jahren – Gemälde von Afro („Pieta Serena“, 1953), Georg Meistermann („Gerüste“, 1955), Heinz Trökes („Großer Gaukler“, 1954), Berto Ladera (Rencontre dans la nuit“, 1958) und Rupprecht Geiger („Goulimine“, 1964). Insofern steht das Corinth-Bild modellhaft für den historischen Ansatz der documenta-Ausstellungen in der Anfangszeit.

Schreibe einen Kommentar